Monika Brandt erinnert sich an die Beschäftigung ihres Vaters Albrecht Brandt (13. Juli 1898 in Stralsund geboren) vom 1. September 1949 bis 31. Dezember 1964 als Schiffbauingenieur auf der Volkswerft Stralsund
Familiärer Neubeginn
Anfangs ist mein Vater noch allein in Stralsund und wohnt zur Untermiete bei Familie
Sengbusch in der Fährhofstr. 24. Doch die ersten Neubauten, die in Stralsund an der
Reiferbahn, am Frankenhof und am Carl-Heydemann-Ring entstehen, sind bereits
vorzugsweise für die Werftarbeiter bestimmt. Im Nachkriegsdeutschland ist eine eigene
Wohnung etwas, wovon viele lange nur träumen können, und so ist es auch eine besondere
Ehre, dass meinem Vater eine der ersten Wohnungen zugewiesen wird: in der Reiferbahn
27. Meine Mutter und ich kommen am 8. Juli 1950 von Weimar nach Stralsund, und das
gemeinsame Familienleben beginnt.
An anderer Stelle habe ich über unser erstes Heim berichtet, über seine Vor- und vor allem
über seine Nachteile. Die oben genannte besondere Ehre wird in der Folgezeit eine
ziemliche Last, von der ich mich erst nach der Wende „befreien“ kann. Bis zum Ende der
DDR gilt die Reiferbahn-Wohnung als „ausreichender und angemessener“ Wohnraum.
Meine Kinderzeit in Stralsund beginnt damit, dass ich in den Kindergarten geschickt werde.
Immer noch geht mir der Ruf voraus, Angst vor Kindern und größeren Menschenmengen,
Angst vor viel Lärm zu haben. Vermutlich stimmt das auch, denn meine Abneigung gegen
viele Menschen und Lärm hat mich mein Leben lang begleitet. Ich muss also weiterhin an
Kinder gewöhnt werden, damit es in der Schule später keine Katastrophe gibt. Während ich
in Weimar in einem katholischen Kindergarten gewesen bin, komme ich nun in den
Evangelischen Kindergarten Diebsteig, der seinerzeit von Schwester Martha, einer
Diakonisse, geleitet wird. Gern gehe ich auch in diesen Kindergarten nicht, das hat
zumindest einen Grund in der täglichen Lebertran-Gabe. Dieser Löffel Lebertran ist ganz
gewiss überaus wichtig in einer Zeit der unzureichender Ernährung, aber geschmeckt hat er
deshalb doch nicht besser. Wir müssen jeden Morgen mit unserem Teelöffel in der Hand vor Schwester Martha antreten, bekommen unsere Ration und müssen diese vor ihren Augen auch runterschlucken. Sie kontrolliert, ob der Mund leer ist! Der Teelöffel existiert noch, er heißt bis heute der „Lebertran-Löffel“.
Sehr umfangreich ist meine Kindergarten-Laufbahn auch in Stralsund nicht mehr, denn
abgesehen von der Abwesenheit wegen diverser Krankheiten, meist Angina, werde ich ja
bereits im September 1951 eingeschult. Gekennzeichnet ist meine Kindheit vor allem dadurch, dass meine Mutter auf Wunsch meines Vaters nicht mehr berufstätig ist. Es hat viele Anfragen gegeben, denn auch erfahrene Sekretärinnen sind in den Anfangsjahren auf der Werft Mangelware. Meine Mutter hätte wohl gerne wieder ein paar Stunden gearbeitet, aber der Wunsch meines Vaters ging vor. Ich wachse daher also als „Hauskind“ auf, im Gegensatz zu den vielen „Hortkindern“.
Die Werft wächst
... in Verbindung mit der Sowjetunion
Die Volkswerft ist insgesamt ein riesiges Aufbauwerk gewesen. Sie ist, wie bereits erwähnt,
auf sowjetischen Befehl hin entstanden, und die Verbindung mit der Sowjetunion war bis
zum Ende des „VEB Volkswerft“ so eng wie nur irgend möglich. Das spiegelt sich auch in
verschiedenster Form in der Zeitung „Unsere Werft“ wider, die es seit Gründung des
Betriebes gibt: Zu meiner großen Überraschung sind in den Jahren 1948, 1949 und 1950 Briefe deutscher Kriegsgefangener aus sowjetischen Gefangenenlagern (mit Angabe der jeweiligen Lager- Nummer) abgedruckt. Ganz offensichtlich sind das gelenkte Zuschriften, denn sie äußern sich unisono freundlich gegenüber den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in der SBZ, aber es ist für mich doch verblüffend, dass es sie überhaupt gibt und dass sie abgedruckt werden. Sowjetische Kriegsgefangenschaft mit all ihren Begleiterscheinungen unterliegt damals ja durchaus einem gewissen kollektiven Verschweigen. Durch die enge Verbindung mit der Sowjetunion wird aber leider auch etwas übernommen, was penetrant ist: der Stalinkult. Die alten Werftzeitungen bieten auch dafür hinreichend Beispiele. Als Stalin im März 1953 stirbt, widmet die Werftzeitung dem „Generalissimus“ eine ganze Ausgabe mit -zig Stellungnahmen zutiefst trauernder Werftangehöriger. Es ist selbst für uns, die ja noch in der Zeit des Personenkults aufgewachsen sind, nicht zu ertragen.
... kulturell
Seit 1950 erscheinen in der Werftzeitung regelmäßig Beiträge über Literatur und die neu
errichtete – kostenlos zu nutzende - Betriebsbücherei (später: Gewerkschaftsbücherei). Ihr
Chef, Wolf Wähnke, stellt in der Serie „Was lesen wir am Feierabend?“ neue Bücher, neue
Autoren vor. Das Schwergewicht liegt dabei auch auf sowjetischer Literatur, für die es wegen der zurückliegenden Nazizeit ja einen Nachholebedarf gibt. Es werden aber auch deutsche Schriftsteller mit ihren Werken vorgestellt, wie z. B. Anna Seghers, Willi Bredel, Ludwig Renn. Diese Serie nimmt einen ganz klaren Bildungsauftrag wahr, der sich auch in Beiträgen wiederfindet, der Film- und Theateraufführungen zum Inhalt hat. Die Artikel sind gut formuliert, erfordern keine nennenswerte Vorbildung und sind im besten Sinne
populärwissenschaftlich. Seit unserem Umzug nach Stralsund beziehe auch ich einen Großteil meiner Kinderliteratur aus der werfteigenen Bücherei, in der auch meine Eltern Leser sind. Wolf Wähnke erkennt rasch, dass ich nicht nur schnell und gerne lese, sondern auch eine Abneigung gegen abgenutzte Bücher habe. Bis zum Tode von Wolf Wähnke im Jahr 1987 bekomme ich, wenn irgend möglich, Bücher als „Erstleserin“.
Und ich bekomme in späteren Jahren auch Bücher, die er nicht mehr ins Regal stellt, weil es sich um „Kontingentliteratur“ handelt, die im Falle eines Diebstahls nicht wieder beschaffbar ist. So bekomme ich Bücher von Stefan Zweig, von Böll und anderen Autoren in die Hand, für deren Bücher die Verlagsrechte in Westdeutschland liegen. In den Anfangsjahren bestehen diese Probleme mit Kontingentliteratur jedoch noch nicht, im Gegenteil, es gibt sogar die Möglichkeit, als Privatmensch Fachbücher aus dem Westen über die Werft zum Preis 1:1 zu erwerben. So kauft mein Vater einige Standardwerke des Schiffbaus und des Maschinenbaus, dazu gehört auch der Dubbel, das Nachschlagewerk für Maschinenbau. Dazu gehören weiterhin die Taschenwörterbücher von Langenscheidt für Englisch, später für Russisch, Französisch, Griechisch und Latein.
Mit diesen Wörterbüchern und dem Dubbel bin ich durch Schule und Studium gegangen, und erst nach Jahrzehnten, als das Vokabular teilweise doch ziemlich veraltet ist, trenne ich mich von einigen dieser Wörterbücher. Bis heute haben die Englisch- und Latein-Wörterbücher in unserem Haushalt überlebt. In den ersteren steht, von meinem Vater notiert: „Am 22.1.1953 in der Bücherei der Volkswerft gekauft. Bezahlt DM 6,45.“ Diese Preise haben sich auch 1959 noch nicht verändert, da kosten die beiden Latein-Wörterbücher zusammen 12,80 DM. Ich erwähne diese Möglichkeit, in volkseigenen Betrieben privat Bücher aus westdeutschen Verlagen zu erwerben, nur deshalb, weil in späteren Jahren die Bibliotheken selbst ja enorme Schwierigkeiten haben, für den eigenen Bestand Kontingentliteratur zu erwerben. Wenn man die Werftzeitungen der ersten Jahre liest, wird einem die ungeheure Bildungsarbeit bewusst, die von der damals sehr kleinen Schicht der Intelligenz, des Bürgertums und der Kulturbeauftragten geleistet wird. Nicht nur das Lesen und der Besitz von Büchern werden im Laufe der Jahre zu einer Selbstverständlichkeit, auch Theaterbesuche, das Musizieren an Musikschulen, die Arbeit in Chören, Tanzgruppen, Malzirkeln und Sportvereinen werden unabhängig von sozialen Schichten immer beliebter und selbstverständlicher. Alle kulturelle Betätigung ist kostenlos.
... sozial
In den Werftzeitungen jener Jahre findet sich auch eine weitere Errungenschaft der neuen
Zeit, nämlich der Feriendienst des FDGB (FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Im
Januar werden die angebotenen Ferienplätze veröffentlicht, für die sich die Interessenten
bewerben können. Auch das In-Urlaub-Fahren ist Anfang der 50er Jahre keine Selbstverständlichkeit, in vielen Familien fehlen (noch) die Väter, das Geld ist knapp, und „man“ verreist in Arbeiterkreisen nicht, bestenfalls fährt man zu Verwandten.
So kommt es, dass die Familien, die sich damals für Ferienplätze interessieren, auch
meistens einen Platz bekommen. Unsere Familie verlebt 1952 den Urlaub in Schierke/Harz,
1953 in Ahlbeck/Usedom und 1954 in Friedrichroda/Thür. Der Urlaub umfasst jeweils 13 Tage und kostet bei einem 3-Bett-Zimmer 1953 beispielsweise für Organisierte, also FDGB- Angehörige, 60,-DM. Nichtorganisierte zahlen einen Zuschlag von 15,- DM. In diesen Preisen ist alles enthalten, also Unterkunft und Vollpension. Dass wir in einem Arbeiter- und Bauernstaat leben, geht aus dem Verteilerschlüssel für die Ferienplätze hervor: 45 % für Produktionsarbeiter, 15 % für technische Angestellte, 15 % für Angestellte, 25 % für Familienangehörige. Werden die Plätze z. B. durch Produktionsarbeiter nicht in Anspruch genommen, können sie von anderen gebucht werden.
Nachdem im Mai 1952 bereits die Kinderkrippe der Werft eröffnet worden war, im Juli die
Betriebspoliklinik, im Januar 1953 das Klubhaus „Ernst Thälmann“, im November 1953 der
erste Betriebskindergarten Gartenstraße, wird im Juli 1954 dort noch ein Kinderhort mit einer Kapazität von 60 Plätzen eingeweiht. Anfangs reicht die Kapazität dafür aus, dass in einer Etage der Kindergarten, in der anderen der Hort untergebracht ist. Das ist jedoch nur
solange der Fall, bis der Hort „ausgelagert“ wird ans Bebel-Ufer, in das Haus, das jahrelang
als russische Kommandantur fungierte und ein - auch für Deutsche nutzbares - „Magasin“
beherbergte. Den Hort in der Gartenstraße habe ich Mitte der 50er Jahre noch als Beherbergungsstätte in den Ferienspielen erlebt, später ist das Haus dann auch der Kindergarten meines Sohnes. Dieses Haus gehört bis zur Wende der Werft, die Versorgung erfolgt weitgehend durch den Betrieb. Es ist der einzige Kindergarten, in dem Kinder in „Vollpension“ sind, d. h. es gibt auch Frühstück und Nachmittagskaffee. Das hat zur Folge, dass mein Sohn z. B. überhaupt keine Brottasche kennenlernt, weil die Kinder nichts zu essen mitbringen müssen. Ich habe diese Rundum-Verpflegung sehr geschätzt, denn wenn es Obst gab, gab es das eben für alle, wenn es etwas zum Naschen gab, bekamen alle das Gleiche. Das ist in Mangelzeiten sehr positiv.
Zu den sozialen Errungenschaften jener Anfangsjahre gehört auch die Möglichkeit, per
Werft-Abonnement ins Kino und ins Theater zu gehen. Meine Eltern machen von beidem
Gebrauch, zu meinem Entsetzen, denn ich habe abends allein in der Wohnung Angst und
schreie die Nachbarschaft zusammen. Das verschafft meinen Eltern beim Heimkommen immer einen besonderen kulturellen Höhepunkt!
Die Zeit nach dem 17. Juni 1953
Das Jahr 1953 ist nicht nur gekennzeichnet durch den Tod Stalins und die Kämpfe um seine
Nachfolge, sondern in der DDR auch durch Verschlechterung der Versorgung, durch
Preiserhöhungen für ausgewählte Nahrungsmittel und durch Normerhöhungen in den
Betrieben. Die Gesamtsituation führt zu den bekannten Ereignissen des 17. Juni und der
Folgetage. Über meine Erinnerungen daran habe ich an anderer Stelle berichtet. Auch in den
Werftzeitungen sind die Normerhöhungen Gegenstand der Berichterstattung. Aber bereits in der Nr. 21 vom 6.7.53 ist der Tenor folgender: „Kollegen unserer Volkswerft nehmen zu den Ereignissen am 18. Juni Stellung“, und diese Stellungnahmen gipfeln in der Feststellung
„Unsere Regierung hat unser Vertrauen“. Ganz sicher ist man sich aber wohl doch nicht, denn man schickt den Kandidaten des ZK der SED, Gen. Prof. Kurt Hager, zur Werft für eine „offene Aussprache“. In der Werftzeitung vom 20.7. wird stolz vermeldet, dass es 29 Wortmeldungen zu 85 angeschnittenen Themen gegeben hat, darunter die Gemüseversorgung. Damit ist ein Thema angeschnitten, das bis zum Ende der DDR trauriger Schwerpunkt bleibt: die Obst- und Gemüseversorgung, später kommt noch die Fleischversorgung dazu.
Da die SED im Juli 1953 festgestellt hat, dass in der Vergangenheit zwar Fehler gemacht
worden sind, die Generallinie der Partei aber richtig gewesen ist, wird die Politik mehr oder
weniger unverändert fortgesetzt. Vorerst geht die Regierung der DDR aus den Ereignissen
des Juni gestärkt hervor. Allerdings ist in der Folgezeit zu beobachten, dass man auf die
Verbesserung der Lebensbedingungen und auf die Erhöhung der Löhne stärker achtet als
zuvor. Wer allerdings einen politischen Kurswechsel erhofft hat, ist enttäuscht. Diese
Erkenntnis spiegelt sich auch in der Zahl der Flüchtlinge wider, die 1953 die DDR in Richtung
Westen verlassen: 391390, das ist mehr als doppelt so viel wie 1952. Immer wieder schickt die Parteiführung „führende Genossen“ in die Großbetriebe, um Agitation zu betreiben und der Bevölkerung so etwas wie Mitspracherecht, um nicht zu sagen Demokratie, vorzuspielen. So „berät“ im Juli 1954 Genosse Karl Schirdewan mit den
Arbeitern der Volkswerft die nächsten Aufgaben.
Ins Jahr 1954 fällt in der Werft auch die Bildung von „Arbeitskonflikt-Kommissionen“, später immer nur in der Kurzform „Konfliktkommission“ genannt, die sich um die Lösung von Arbeitskonflikten auf unterer Ebene kümmert. Es ist ein gewerkschaftliches Gremium. Anfangs sind die Mitglieder vom Werftleiter benannt worden, später wurde gewählt. Mein Vater wird für die AGL (Abteilungsgewerkschaftsleitung) Technische Direktion als Mitglied der ersten Konfliktkommission benannt.
... mit Blick über die deutsch-deutsche Grenze
Bei der Durchsicht der alten Werftzeitungen bin ich sehr überrascht, wie lange noch über die
deutsch-deutsche Grenze geschaut wird, wie lange noch Verbindungen zu Werften und
Vereinen in der Bundesrepublik bestehen. Natürlich meist unter den entsprechenden
Vorzeichen, aber für mich, der in späteren Jahren das Wort „Hamburg“ aus einem Artikel für
die Werftzeitung gestrichen wird, ist das schon erstaunlich. So lautet am 18.12.54 eine
Überschrift in der Werftzeitung „Die Werktätigen der Volkswerft Stralsund grüßen die
Werktätigen Flensburgs und erklären sich mit ihnen solidarisch im Kampf gegen die
Remilitarisierung“. Auch in den Folgejahren findet sich die Bundesrepublik genau wie das
sonstige kapitalistische Ausland unter den verschiedensten Überschriften in der
Werftzeitung:
- 1955: „Brüder in Ost und West“ ( Es wird über eine Fahrt nach Hamburg berichtet)
- 1955: „Motor Stralsund spielte in Hamburg“
- 1955: „Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit“
- 1955: „Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland“
- 1958: „Werftangehörige weilten in den Ostseestaaten“ (Urlaub in der Sowjetunion, Polen, Norwegen, Dänemark und Schweden)
- 1960: „Kommt zu uns, liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
- 1960: „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
- 1960: „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.
Die Stellung der Intelligenz in den fünfziger und sechziger Jahren
Ein Thema, das in meiner Kindheit nicht nur die Zeitungen immer wieder aufgreifen, sondern
das auch in der Werft und bei uns zu Hause diskutiert wird, ist die Stellung und Behandlung
der Intelligenz. Während man bis Kriegsende und später auch in der BRD bei dem Wort
Intelligenz in erster Linie an Klugheit oder leichte Auffassungsgabe denkt, verbinden die
meisten DDR-Bürger mit diesem Wort den Gedanken an eine Gesellschaftsschicht, die im
Gegensatz zur Schicht bzw. Klasse der Arbeiter und Bauern steht. Die soziale, gesellschaftliche Schicht, aus der man kommt, spielt eine gewaltige Rolle. Selbst in den Klassenbüchern der Schulen wird die soziale Herkunft rot dokumentiert durch einen
entsprechenden Buchstaben vor dem Namen (z. B.: A = Arbeiter, B = Bauern, I = Intelligenz). Der Makel, aus der Intelligenz zu stammen, kann nur noch übertroffen werden von der Herkunft aus einem Pfarrhaus oder von Selbständigen (Geschäftsleuten, kleinen Handwerksbetrieben u. ä.). Ich bin schon ein glücklicher Mensch, dass ich - muss ich meine Herkunft angeben - wenigstens sagen kann technische Intelligenz, das ist nicht ganz so schlimm wie Mediziner und Künstler. Die Missachtung der Intelligenz steht im Zusammenhang mit der Verachtung aller bürgerlichen Tugenden, Eigenschaften, Verhaltensweisen und Ziele. 1945 ist ein „Studierter“ in der Mehrheit jemand, der aus bürgerlichen Verhältnissen kommt und damit per se verdächtig ist, ein Klassengegner zu sein. Zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung und zum Aufbau der Industrie ist die Intelligenz aber anfangs dringend nötig. Sie wird gebraucht, daher auch bis zu einem gewissen Grade gehätschelt, aber gleichzeitig sehr argwöhnisch beobachtet. Um sich von bürgerlichen Normen abzusetzen, wird die in der DDR arbeitende Intelligenz mit dem Zusatz schaffende oder werktätige versehen.
Bereits 1950 begann ein Buhlen um die „alte Intelligenz“. Die offene Grenze und der sich
verschärfende politische Druck lassen ja nicht nur insgesamt die Flüchtlingszahlen
ansteigen, sondern gerade auch die der Intelligenz, sowohl der technischen als auch der
medizinischen. Man muss also versuchen, die vorhandenen Leute zu halten. Das geschieht
u. a. durch Abschluss sogenannter „Einzelverträge“. Der Vertrag mit meinem Vater ist datiert vom 1.6.1951 und ist in den Folgejahren erweitert und verändert worden (siehe Abbildungen). Das Ziel des Vertrages wird unmissverständlich formuliert: „... Herr Brandt erklärt sich bereit, seine Kenntnisse und Erfahrungen gleicherweise in den Dienst der Heranbildung von qualifizierten Fachkräften sowie des allgemeinen technischen,
wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts zu stellen. .... Dadurch sind zugleich wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass zwischen Herrn Brandt als Vertreter der werktätigen Intelligenz und der Belegschaft des Werkes ein dauerhaftes Verhältnis des Vertrauens und der gegenseitigen Achtung entsteht.“
Ein sehr wichtiger Punkt dieser Verträge ist die Zusicherung einer zusätzlichen
Altersversorgung, d. h. die Rente beträgt für die Besitzer solcher Einzelverträge 60 % (bis
80% z. B. für Ärzte) des durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommens. Das ist gemessen an den niedrigen DDR-Renten eine fürstliche Altersrente, zumal dem Ehepartner für den Todesfall des Vertrags-Inhabers 50 % der Bezüge zugestanden werden. Neben der Altersversorgung beinhalten diese Einzelverträge aber auch solche Zusicherungen, wie angemessenen Wohnraum (was als angemessen gilt, steht allerdings auf einem anderen Blatt), die gewünschte (Aus-)Bildung für die Kinder usw.
Trotz dieser Vergünstigungen verlassen viele alte Intelligenzler die DDR, und auch bei uns
wird dieses Thema immer wieder diskutiert. Natürlich nicht mit mir, aber die Wände und
Türen sind zu dünn, als dass ich diese Unterhaltungen meiner Eltern überhören kann.
Letzten Endes bleiben wir in Stralsund, weil sich mein Vater, der ja Jahrgang 1898 ist, in
seinem Alter auch in der Bundesrepublik keine Berufschancen mehr ausrechnet. Noch
einmal bei Null anzufangen, erschien ihm unmöglich. Dennoch muss die Frage irgendwann
Anfang/Mitte der 50er Jahre einmal sehr akut gewesen sein, denn auch ich werde mit
einbezogen. Meine entsetzte Antwort: „Ich will hier nicht weg!“ Die Vorstellung, Schule,
Klasse, Lehrer, meine Freundin usw. aufzugeben, war für mich völlig undenkbar.
So bleibt also die „alte Intelligenz“ in Stralsund und macht das Auf und Ab in den Folgejahren mit. Es wird in der Tendenz allerdings mehr ein Ab. In den Jahren bis 1956 etwa wird die technische Intelligenz immer wieder mit Bedacht gehätschelt. So gibt es beispielsweise in der Werft einen „Intelligenz-Speisesaal“ mit weißen Tischtüchern und anfangs sogar mit Bedienung, wo die leitenden Angestellten essen. Dieser Raum dient auch kleineren „elitären“ Veranstaltungen als Heimstatt. So hält beispielsweise im Februar 1955 Prof. Lemnitz (Wirtschaftswissenschaftler, später Minister für Volksbildung, Vorgänger von Margot Honecker) im Intelligenz-Speisesaal der Werft einen Vortrag vor „...Angehörigen der schaffenden Intelligenz unserer Volkswerft“. In dieser Zeit legt man auch großen Wert darauf, dass sich Intelligenzler zu politischen Tagesfragen äußern. So finde ich in der Werftzeitung vom 16. Juli 1955 einige markige Worte meines Vaters unter der Überschrift „Intelligenzler zu der Einladung an Adenauer“: Ingenieur Brandt, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung, begrüßt vor allem, dass die Sowjetunion die Initiative zu Besprechungen mit Adenauer ergriffen hat. Dadurch ist die Möglichkeit zur Erhaltung des Friedens und zu einer Wiedervereinigung gegeben. Er sagte weiter: „Das gesamte Deutschland muss darauf dringen, dass es zu einer Einigung in Moskau kommt und Adenauer von seinen Bündnissen mit dem Westen ablässt“.Ob er das wirklich gesagt hat, ist zumindest für die indirekt wiedergegebene Rede zweifelhaft. Andererseits wird deutlich, dass das Thema Wiedervereinigung in jenen Jahren noch allgegenwärtig ist, was ich aus meiner Oberschulzeit, also 1959 bis 1963, bestätigen kann, da wir alle Vorschläge, Deutschlandpläne usw. im Fach Staatsbürgerkunde durchkauen.
Dass normale Alltagsthemen in der Werftzeitung separat nach Intelligenz und Werkern
abgehandelt werden, kann man noch bis Anfang der 60er Jahre verfolgen. Bis zum
Mauerbau 1961 versucht man wenigstens noch ab und zu einen moderaten Umgang mit der schaffenden Intelligenz vor allem in der Industrie, denn zu viele verlassen das Land.
Gemessen wird die Intelligenz aber stets an ihrer Haltung zur Partei der Arbeiterklasse, zur
SED. Bei uns zu Hause kocht die Diskussion über die Intelligenz an den verschiedensten Enden hoch. Ein Thema, an das ich mich sehr deutlich erinnere, ist die Begabtenförderung. Das ist ein derart bürgerlicher Begriff, der schon als Wort gefährlich ist. Wer es verwendet, outet sich automatisch als „Gestriger“. Im Sozialismus jener Jahre lehnt man Begabungen total ab. Ein fataler Irrtum, der sich später auswirkt, als man nämlich viele Begabungen bereits hatte verkümmern lassen. Wenn ein Schüler damals nun durch überdurchschnittliche Leistungen auffällt, gibt es keine „Extraration“ an Wissen, sondern es wird als einziges angeboten, dass er eine Klasse überspringt. Das ist auch in unserer Familie diskutiert worden, kam aber nicht zustande, denn erstens habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt (Begründung, siehe oben!), und zweitens sind meine Eltern sehr vernünftig, denn ich war ja bereits in meiner Altersklasse die Jüngste.
Ein anderes Thema, das mit der falschen sozialen Herkunft in enger Verbindung steht, ist
der Besuch der Oberschule. Es gibt für die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur führt, feste
Quoten: soundsoviel Prozent Arbeiterkinder, soundsoviel Bauernkinder (wenn vorhanden),
soundsoviel Angestelltenkinder ... Vielen Kinder aus Medizinerfamilien, von Handwerkern
und Theologen ... wird daher prinzipiell der Zugang zur Oberschule verwehrt. Und viele
Familien gehen allein aus diesem Grund den Weg in den Westen. So wird auch das Thema
„Jugendweihe“ in diesem Kontext zu einem Zerreißthema in vielen dieser betroffenen
Familien. Dennoch finden sich die Intelligenzler der Werft aus den verschiedensten Gründen immer mal in der Werftzeitung wieder, und zwar unabhängig von einer Mitgliedschaft in der SED. Das hat ab und an mal fachliche Gründe, aber meistens sind es geforderte Stellungnahmen zu irgendwelchen politischen Ereignissen. Das ändert sich Anfang der 60er Jahre, da ist der erste studierte Nachwuchs aus den Reihen der Arbeiterklasse so weit, dass er ein Wort in Industrie, Gesundheitswesen usw. mitreden kann. Von nun an hören sich die Wortmeldungen in der Presse etwas anders an. Werftzeitung vom 30.3.1961:
„Wie stehen wir zur alten Intelligenz? ....Wenn wir genau einschätzen wollen vom Standpunkt der Volkswerft meinetwegen, können wir doch eines sagen, die Arbeiterklasse hat bereits eine eigene Intelligenz ...“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger als „wir brauchen euch nicht mehr!“ Als wenige Monate später dann durch den Mauerbau in Berlin die letzte Möglichkeit entfällt, den ungeliebten Staat zu verlassen, ist die Lage der alten Intelligenz entschieden. Sie hat den Mund zu halten und auf ihre - in der Tat nicht schlechte - Rente zu warten.
Soziales aus den 50er Jahren
In den Anfangsjahren der Werft steht die Versorgung der Beschäftigten an oberster Stelle.
Dazu gehört von Beginn an die warme Mittagsmahlzeit. Eine der ersten mir erinnerlichen
Erzählungen meines Vaters - die Werft betreffend - dreht sich daher auch ums Essen. Es
gibt oft Fisch, meist saisonbedingte Angebote gefangen von Kuttern der Werft. So kommt
also auch im Mai der Hornhecht auf den Tisch, der Fisch mit den grünen Gräten. Das wird
für meinen Vater eine Zeit der Fettlebe, denn der Hornhecht wird von der Mehrzahl der Leute abgelehnt. Das war kein Wunder, Hornfisch ist auch heute noch meist nur an der Küste bekannt. Die vielen Umsiedler, die damals auf der Werft arbeiten, haben in ihrem Leben nie einen Fisch mit grünen Gräten gesehen, halten ihn für vergammelt und essen ihn nicht. Mein Vater, der Hornfisch seit Kindertagen kennt und schätzt, darf essen, soviel er will. Eine wunderbare Sache in jener Zeit der Mangelernährung!
Ende der 50er Jahre hat sich der Speiseplan der Werft bereits erheblich verbessert. Es gibt
täglich 4 verschiedene Essen zur Auswahl: Stammessen, 2 Wahlessen und ein Diätessen.
Der Speiseplan wird jede Woche in der Werftzeitung veröffentlicht, die Essenmarken werden
im Vorverkauf erworben. Wie die Verpflegung im Detail aussieht, zeigt z. B. das Angebot von Montag, dem 4. Februar 1957:
1. Stammessen /0,50 DM/ - Thüringer Rotwurst, Pilztunke, Kartoffelpürree
2. Wahlessen II /0,80 DM/ - Gekochtes Schweinefleisch, Sauerkraut, Salzkartoffeln
und Apfelmus
3. Wahlessen I /1,00 DM/ - Ochsenschwanzsuppe, gek. Kasseler, Salzkartoffeln und
Heidelbeerkompott
4. Diätessen /0,50 DM/ - Kartoffelsuppe mit Fleischeinlage, Butterbrötchen.
Das ist für die damalige Zeit in der DDR kein schlechtes Angebot. Mein Vater hat sich im
allgemeinen für das Gedeckessen, also das Wahlessen I, entschieden und ist damit gut gefahren.
Neben der Esserei beschäftigt die Werft sich aber auch intensiv mit der Unterbringung von Kindern in Krippen und Kindergärten, denn immer noch sind Arbeitskräfte rar, und man muß
Frauen in den Produktionsprozeß mit einbeziehen. Das setzt jedoch die Unterbringung der
Kinder voraus. So wurde zu den bestehenden Einrichtungen 1957 auf dem Dänholm noch
ein Kinderwochenheim eingerichtet. Der Dänholm wird in den Nachkriegsjahren ausschließlich zivil genutzt, zum ersten Mal in seiner Geschichte übrigens, und hat damals auch für die Werft noch eine sehr große Bedeutung, denn in den ehemaligen Marine-Kasernen wohnen sehr viele Werftangehörige, für die es im Stadtgebiet noch keinen ausreichenden Wohnraum gibt. Die Wohnungssituation entspannt sich überhaupt erst etwas in den Jahren bis 1955, denn 1954 wird die AWG Volkswerft (AWG = Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft) gegründet, und viele Werftangehörige beginnen mit dem Bau von Eigenheimen. Auch mein Vater hätte diese Möglichkeit gehabt, aber er war dazu einfach zu alt, denn neben einem hohen finanziellen Eigenanteil werden Eigenleistungen verlangt, sogenannte Aufbaustunden. Und wenn man heute liest, dass jedes AWG-Mitglied etwa 1.200 bis 1.300 Aufbaustunden geleistet hat, so verstehe ich meinen Vater durchaus.
Anfang der 50er Jahre jedenfalls ist der Dänholm noch dicht besiedelt. Auch aus meiner
Schulklasse kommt die Hälfte der Kinder von dort. Wir anderen beneiden sie, denn sie
haben zum Zuspätkommen sozusagen einen Freibrief: „Die Brücke war hoch, wir konnten
nicht früher kommen!“ Gemeint ist die Ziegelgrabenbrücke, die zwar reguläre Öffnungszeiten hat, bei der aber durchaus öfter mal technische Pannen auftreten, die von den Lehrern nicht zu überprüfen sind.
Zum Ende der 50er Jahre bestimmen aber noch andere Themen das Leben der Werftler und
ihrer Familien. Darüber geben Überschriften aus der Werftzeitung von 1957/58 Auskunft:
- Brief an Jupp Angenfort (ein westdeutscher Kommunist, der gerade mal wieder
- eingesperrt war)
- Brüder in Ost und West (über eine Fahrt nach Hamburg)
- Motor Stralsund spielte in Hamburg
- Für die Frau: Was kocht Käthe? (Rezepte)
- Erfolgreiche Großübung der Kampfgruppen (nach dem Aufstand 1953 gegründete
- paramilitärische Organisation in Großbetrieben, zum Schutz der Industrie gedacht)
- Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit
- Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland
- Sonderklassen, ja oder nein?
Letzteres beinhaltet die beabsichtigte Veränderung im Fremdsprachenunterricht Russisch:
Die sogenannten Sonderklassen haben Russischunterricht bereits ab Klassenstufe 3. Da
dafür natürlich nur die besten Schüler ausgewählt werden, ist das Niveau in solchen Klassen insgesamt höher als sonst üblich. Es ist somit also eine sozialistische Sonder-Form der Frühförderung begabter Schüler, ein generelles Umdenken, was Begabtenförderung angeht, ist es jedoch noch lange nicht. Für mich kommt aber selbst diese Errungenschaft zu spät, ich bin inzwischen schon in der 7. Klasse.
Im schulischen Bereich gibt es aber seit dem 1. September 1958 eine weitere Neuerung,
die auch meinen Jahrgang betrifft: Der polytechnische Unterricht wird eingeführt. Die Schüler der Fritz-Reuter-Schule haben damit einen Tag in der Woche UTP (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion) im Bereich Reparaturen der Volkswerft. Dass mit dieser sehr kurzfristigen Einführung alle überfordert waren, ist nachzuvollziehen. Die Werker wissen mit uns kleinen Stiften wenig anzufangen, denn die Arbeit ist ja körperlich sehr schwer und nicht unbedingt für 13-/14-jährige Schüler geeignet. Dennoch haben sich einige Bereiche viel Mühe gegeben. Oft hängt das unmittelbar mit dem jeweiligen Chef zusammen, hat der Kinder, weiß er auch, was diese Altersklasse interessiert. Neben Büroarbeit, die ich nicht sehr aufregend fand, habe ich in der 8. Klasse auch genietet (eine schwere und sehr lärmintensive Arbeit). Daran hat sich später unsere Klassenlehrerin, Frau Lau, immer mit Hochachtung erinnert, wie ,eine Freundin Anni und ich in den Metallschränken hockten, eine mit dem Niethammer bewaffnet, die andere mit dem Gegenhalter. Es ist mit Sicherheit nicht leicht gewesen, aber wir sind auf unsere Arbeit sehr stolz. Eine andere polytechnische Tätigkeit begeistert meine Mutter: Wir wurden für die Taklerei eingeteilt und lernen, auf den riesigen Industrienähmaschinen Persennings zu nähen. Meine Mutter erhofft sich von meinen neuen Fähigkeiten, dass ich mich irgendwann auch mit Begeisterung auf die heimische Nähmaschine stürzen werde, was aber nicht der Fall ist! Wir haben seinerzeit den holprigen Anfang dieses polytechnischen Unterrichts erlebt, haben aber in den Folgejahren auch die Fortsetzung mitgemacht, denn ab Klasse 10 ist unser Praxisunterricht in eine reguläre Ausbildung übergegangen, die uns in die - 1949 als Lehrkombinat gegründete - Betriebsberufsschule der Werft führt. Dort wird der
Werftnachwuchs ausgebildet, und auch wir lernen Bohren, Drehen, Fräsen, Schweißen und
natürlich Feilen, - bis zum Abwinken! Neben der praktischen Ausbildung in den Werkstätten
gehört natürlich auch der theoretische Unterricht zum Plan. Ich halte diese Grundausbildung noch heute für etwas sehr Positives. Das Ziel allerdings, das ursprünglich staatlicherseits angestrebt wurde, nämlich eine enge Verbindung der künftigen Intelligenz mit der schaffenden Arbeiterklasse, ist natürlich nie erreicht worden. Das ist eine Illusion gewesen. Aber es schadet niemandem, sich mal die Hände richtig dreckig zu machen und zu sehen, wie schwer manche Menschen ihre Brötchen verdienen. Außerdem kam diese Ausbildung in der Industrie den praktischen Fertigkeiten des Einzelnen sehr zugute.
Der Stolz auf den steigenden Wohlstand der Werftangehörigen kommt in einer Statistik zum
Ausdruck, die die Werftzeitung am 6. Oktober 1959 veröffentlicht: „Gemäß Zählung vom 25./26.9.1959 gibt es in der Werft folgende Privatfahrzeuge: 250 Motorräder, 10 Motorräder mit Beiwagen, 80 Mopeds, 60 Motorroller, 15 PKW.“ Wenn das nichts ist! Leider liegt mir eine adäquate Vergleichszahl aus der BRD nicht vor, die würde diese Zahlen erst ins rechte Licht rücken.
Aus der kleinen Loggerwerft wird eine Großwerft
Unter der Überschrift „Ruhm und Ehre unseren Aktivisten“ verzeichnet die Werftzeitung im
Mai 1958 auch eine Aktivisten-Auszeichnung des Patentingenieurs Albrecht Brandt. Sie ist
schon nicht mehr ganz so pompös, das heißt ohne zugehörigen Aktivistenpass usw. Das
Gleiche trifft auf die letzte Aktivisten-Auszeichnung ein Jahr später zu. In jener Zeit beginnt
bereits die massenhafte Vergabe dieser Ehrung. Allerdings muß man berücksichtigen, dass
Angehörige der Intelligenz und Angestellte derartige Auszeichnungen wesentlich seltener erhalten als Produktionsarbeiter. Wir sind eben ein Arbeiter- und-Bauernstaat! Die Auszeichnungen meines Vaters sind vermutlich in erster Linie begründet in der Vielzahl
seiner Patente, Wirtschaftspatente und Gebrauchsmustern . Er hat ja nicht nur die von
anderen eingereichten Verbesserungsvorschläge, wenn möglich, zur Patentreife entwickelt,
sondern ist selbst Inhaber vieler Patente.
Diese Vielzahl von Patenten hat ihre Ursache im Betrieb selbst, denn die Werft stellt zu
dieser Zeit ihr Schiffbauprogramm generell um. Die bis dahin - neben anderen Schiffstypen -
in unvorstellbar hohen Serienzahlen gebauten Logger und Mitteltrawler werden abgelöst
durch das Großtrawler-Programm, das 1960 mit dem Bau der ersten „Tropik“-Schiffe
beginnt. Es sind erstmals keine reinen Fangschiffe mehr, sondern Fang- und Gefriertrawler. Das heißt, diese Schiffe haben auf Deck die Fangtechnik, unter Deck die Verarbeitungstechnik. Damit ist der „Tropik“ qualitativ natürlich etwas völlig Neues. Dieser Schiffstyp wird später weiterentwickelt werden zum „Atlantik“ und „Atlantik-Supertrawler“. Ich kann mich noch gut an die Begeisterung meines Vaters erinnern, als die Tropik-Serie in der Vorbereitung war. Alles ist neu: die Werft wird erweitert (Werftausbau Süd), es kommt die neue, aufsehenerregende Absenkanlage dazu, der „Schiffs-Fahrstuhl“, der die bisher übliche Stapellaufmethode ersetzt. Die Fangtechnik ändert sich: aus Seitenfängern wurden Heckfänger. Damit ändert sich auch das Fanggeschirr. Das sind für einen Betrieb gewaltige Veränderungen, und die kreativen Köpfe haben ein großes Betätigungsfeld. So bringen z.B. die Erfindungen von H. L. der Werft einen enormen Nutzen, denn es handelt sich bei den meisten um Neuerungen in der Schleppnetzfischerei, z. B. bei den Scherbrettern, und um die Anwendung von Plaste im Schiffbau. Plaste ist damals ein völlig neuer Werkstoff mit geradezu unvorstellbar günstigen Eigenschaften. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater ein kleineres, gegossenes Bauteil mit nach Hause brachte (was es genau war, weiß ich nicht mehr) und meiner Mutter und mir begeistert Vorträge hielt, z. B. über das geringe Gewicht und über die Festigkeit.
In meiner Erinnerung ist die Zeit um 1960 fachlich für die Werftler eine Zeit hoher Anforderungen, aber gleichzeitig auch eine sehr zuversichtliche Periode. Was auf der Werft mit dem Großtrawler-Programm entsteht, ist Weltspitze, und die Beteiligten eint neben der harten Arbeit auch der Stolz auf die expandierende Werft. In diesen Jahren entsteht automatisch so etwas wie Verbundenheit mit dem Betrieb; Volkswerftangehöriger zu sein, das war schon was! Nicht nur mein Vater erzählte später gern und viel von dieser Zeit. Leider haben viele von denen, die für den Aufstieg der Werft gearbeitet und ihn mit geprägt haben, 30 Jahre später auch noch die Kämpfe um den Erhalt dieses großen Betriebes miterleben müssen. Meinem Vater ist das - in diesem Fall: zum Glück! - weitestgehend erspart geblieben.
Die Mauer verändert alles
In den Aufschwung der Werft bricht ein Ereignis herein, das alles verändert: der Mauerbau.
Das Problem der über Westberlin abwandernden Fachkräfte hat die DDR ja seit ihrer
Gründung beschäftigt. In Betrieben und Schulen ist man immer gespannt, wer nach dem
Urlaub/nach den Ferien wieder auftaucht bzw. wer nicht. Daher pendelt die Propaganda der
DDR zwischen den beiden Eckpfeilern: Deutschlandpläne für eine Vereinigung und
Schlechtreden der westdeutschen Wirtschaft. Beides dient dazu, der eigenen Bevölkerung
Stärke und Zukunftsfähigkeit vorzuspielen. In der Werftzeitung sieht das dann so aus:
- „Plan zur Rettung der deutschen Nation“
- „Werftecho auf den Deutschlandplan des Volkes“
- „Kommt zu uns! Liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
- „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
- „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.
Aber nicht nur in den Medien verschärft sich der Klassenkampf, auch in den Betrieben wird
die richtige politische Ausrichtung des einzelnen immer wichtiger für seinen beruflichen
Aufstieg. In diese politisch aufgeheizten Sommermonate fällt dann das, was allseitig ideologisch vorbereitet ist: Die offene Grenze in Berlin wird mit dem Mauerbau geschlossen. Die offizielle Bezeichnung „Antifaschistischer Schutzwall“ versucht zu bemänteln, was nicht zu bemänteln ist, dass nämlich der DDR schlicht die Fachleute abhanden kommen und dass sie ihre Leute einsperren muß, um sie zu halten.
Nach dem Mauerbau setzt eine gewaltige Medienkampagne ein:
- „Schluß mit dem schmutzigen Menschenhandel“
- „Das Vaterland ruft!“ (Freiwilliger Ehrendienst in der NVA)
- „Arbeiter antworten den Militaristen“
- „Kollegen treten der Kampfgruppe bei“.
Die Zeitungen sind voll mit Ergebenheitsadressen an das ZK (Zentralkomitee) der SED und
an die Regierung. An anderer Stelle habe ich bereits erzählt, dass auch wir Schüler der Hansa-Oberschule nach den Sommerferien unsere Ergebenheitsadresse abliefern: Als Bekenntnis zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat tragen wir ein Jahr lang das Blauhemd der Freien Deutschen Jugend! Es hat dem Staat nicht geholfen, und uns hat es das Blauhemd für den Rest unseres Lebens verekelt! Generell aber kann man für die unmittelbare Zeit nach dem 13. August 1961 sagen: Die Mehrheit der Bevölkerung ist in eine Art Starre verfallen und ist sich darüber im Klaren, dass von jetzt an ein anderer Wind weht, denn es gibt ja nun keine andere Möglichkeit mehr als zu bleiben.
Auch die Werftzeitung jener Zeit läßt die radikale Politisierung erkennen: Die Parteileitung
bestimmt den Inhalt. Bei der Auflistung der Mitglieder der neu gewählten Parteileitung wird
als erste Angabe die soziale Herkunft genannt. Jegliche Deutschlandpläne u. ä.
verschwinden aus den Medien, jetzt heißt die Kernfrage: völkerrechtliche Anerkennung der
DDR. Die Parteitage der SED bestimmen nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das
wirtschaftliche Leben, getreu nach dem Motto „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“
(eine Zeile aus einem Gedicht von Louis Fürnberg), das jahrelang im großen Speisesaal der
Werft die Bühnenwand zierte und mir Mittagessen und Fürnberg versalzte. Der Partei-Einfluß geht so weit, dass Schwerpunktobjekte, wie z. B. der Prototyp einer neuen
Generation von Fischereifahrzeugen, unter Parteikontrolle gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht ein Fachmann, sondern der Parteisekretär in allen Fragen das letzte Wort hat.
Unter diesen Bedingungen war es von Anfang an klar, dass nur diejenigen noch Karriere
machen konnten, die auch Mitglied der SED waren. Ist das nicht der Fall, nützen die besten
Leistungen nichts. Auch die junge Intelligenz bekommt das zu spüren. Mein Vater, der 1963 das Rentenalter erreicht, arbeitet bis Ende des Jahres weiter ganztags, dann schließt er noch ein Jahr mit einer Halbtagstätigkeit an. Mit dem 31.12.1964 endet sein
Berufsleben.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Aktennotiz von seinem damaligen
unmittelbaren Vorgesetzten: Mein Vater, der damals noch Verbündete in der Direktion hatte,
war erfolgreich gegen seine vorzeitige Ablösung als Leiter der Patentstelle und die
Einsetzung des designierten Nachfolgers vorgegangen. Er blieb Leiter der Patentstelle bis
zur Pensionierung. Dieses altersmäßige Arbeitsende rettet ihn aber mit Sicherheit vor einer
Absetzung vom Chefposten, die anderenfalls früher oder später erfolgt wäre. Ein Leiter der
Patentstelle ohne SED-Mitgliedschaft wäre in den Folgejahren undenkbar gewesen. Dass die Parteizugehörigkeit auch direkten Einfluß auf dienstliche Belange hat, konnte mein Vater noch im Nachhinein registrieren: Er hatte während seiner Tätigkeit mehrfach versucht, im Rahmen von Patentanmeldungen und Patentstreitigkeiten ins Deutsche Patentamt nach München fahren zu können. Es war völlig unmöglich, obwohl der Werft dabei materieller Schaden entstand. Sein Nachfolger durfte nach München fahren. Er war Genosse.
Werner Schulz erinnert sich an sein Arbeitsleben auf der Volkswerft
Geboren am 18. Dezember 1921 in Altbork, einem ca. 9 km südwestlich von Kolberg gelegen Bauerndorf (heute poln. Stary Borek),. Er erlernte auf einem Gut den Beruf eines Schmieds. Nach Militärzeit und mehrjähriger russischer Gefangenschaft, aus der er im Juli 1948 entlassen wurde, gelangte Walter Schulz als Vertriebener in die Gemeinde Rollwitz (heute Landkreis Vorpommern-Greifswald). Auf eine Anzeige in der Zeitung „Neues Deutschland“ bewarb er sich 1949 auf der Stralsunder Volkswerft. Sein erster Arbeitstag war der der 3. November 1949. Kurz danach, am 6. November 1949 wurde der erste Logger RL 401 auf den Namen Oktoberrevolution getauft (Näheres über diese Zeit auf der Volkswerft können Sie der Publikation "Die Loggerfabrik am Strelasund, Auferstanden aus Ruinen, von Werner Ortlieb und Jörg Matuschat in den Stralsunder Heften für Geschichte, Kultur und Alltag, Ausgabe 2012, Seite 80 bis 85 nachlesen). Zusammen mit anderen männlichen Kollegen , bewohnte er zunächst eine Stube in der ehemaligen Kaserne auf dem Dänholm. Erst nach seiner Heirat und der Geburt seiner Tochter im März 1951, bezog er zusammen mit seiner Frau eine Einzimmerwohnung in der Sarnowstraße. Ursprünglich als Schmied eingestellt, war er später in der Verformung (Schiffbauteilefertigung) an der Vier-Säulen-Presse beschäftigt. Dort arbeitete er als Maschinenarbeiter, arbeitete sich hoch zum Arbeitsgruppenleiter und Arbeitsschutzobmann, und wurde mehrfach für seine Verbesserungsvorschläge belohnt und mit Urkunden geehrt Er war auf der Volkswerft bis zu seiner Invalidisierung mit 61 Jahren im Oktober 1982 beschäftigt.
Bild privat um 1950/51, mit den Mitbewohner auf dem Dänholm
Ausschnitt aus der Werftzeitung
Ausschnitt aus der Werftzeitung
Artikel samt Foto aus der Werftzeitung
Foto aus der Werftzeitung, Werner Schulz (zweiter von rechts)
Artikel aus der Werftzeitung
Eine von den vielen Urkunden, die Herr Schulz erhalten hat.
Erste Ausschnitte aus zwei am 8. und 20. Juli 2022 von Herrn Freiherr von Houwald mit Herrn Werner Schulz geführten Interviews (wird fortgesetzt)
Zu den Umständen der Arbeitsaufnahme am 3. November 1949 und in der ersten Zeit
v.H: Wir haben jetzt gerade darüber gesprochen, dass sie am 3. November 1949 ihren ersten Arbeitstag auf der Werft hatten. Gewohnt haben Sie auf dem Dänholm.
W.S. ja, Block 1, Hausmeister Krüger, das war `n ganz Gewissenhafter, hatte alles im Griff
v.H.: Dort haben Sie gewohnt mit mehreren jungen Männern.
W.S. 6, ja 6, alles Vertriebene und die kriegten Arbeit auf der Volkswerft. Und da die Quartiere von Stralsund und so weiter alle voll waren, kriegten wir jetzt auf dem Boden in der Kaserne ..., und da wurde denn ein Bett hingestellt und da wohnten wir denn.
v.H.: Sie waren bei der ersten Loggertaufe dabei...
W.S.: ja, das war geschweißtes Schiff (E-Schweißung), das andere war vorher alles mit Nieten.....
v.H.: Wann mussten Sie morgens aufstehen?
W.S.: Ooh, fünfe oder halb sechse,
v.H. Bekamen Sie dort Frühstück
W.S.: ja, ja da war die zweite Kaserne, da war ein Konsum drin, Dort konnte man einkaufen, mit Marken, und da mussten wir uns selbst verpflegen. Mittags gab's warmes Essen auf der Werft, im 3-Schichten-System. Jede Schicht hatte eine Küchenbesatzung. Und dort gab es mehrere Gerichte, frisches Essen.
v.H.: Sind Sie gut verpflegt worden?
W.S.: ja, das war das alles
v.H.: Und wie war die Kameradschaft unter den Mitbewohnern? Wenn so viele junge Männer zusammen kommen?
W.S.: ja, die war so, ja. ja...So jung waren wir alle nicht, ich war der jüngste wieder mit.
v.H.: Wo kamen die anderen Mitbewohner her?
W.S.: ...Von Grimmen, Anklam und von, von, hier von ...
v.H.: Aus Pommern...
W.S.: ... und hatten auch verschiedene Berufe, nicht dat sie alle nur Schlosser waren oder Schmiede, nein, die wurden auch erst neu angefangen mit dem Beruf. Da war meist eine Hauptperson, und das andere, zwei, drei Mann waren ohne Beruf. Und mit der Zeit konnten die das auch ....
v.H.: Und sind Sie mit der Fähre zur Werft gefahren worden, mit dem Boot?
W.S.: Nein, nein. Auf dem Dänholm ist doch der Rügendammbahnhof, und dann kommt die Brücke, die war damals wiederhergestellt ....
v.H.: Und Sie haben als Schmied angefangen...
W.S.: Ich war als Schmied angefangen. Und da ich nicht mehr als Schmied den Beruf weiter machen konnte, wegen mit die Massenarbeit, da war der erste Vorschlag.... an meiner (Feuer-)Esse, hinter meinem Rücken wurde eine Maschine hingestellt ... dies war so eine Nietmaschine. Die Schiffe wurden damals noch genietet....Und die wurde nicht gebraucht. Und jetzt stand die da. "Und jetzt ich mit meinen Kloppen hier ..." ... habe ich mir die Maschine angeguckt und meinen ersten Vorschlag gemacht... Ein Bolzenfertighalter ... Vorher brauchte man 30 Hammerschläge, und jetzt ohne einen Hammerschlag. Das war der Anfang..., das gab mir immer wieder neue Triebe, am Wochenende oder Nachts konnte ich dann richtig ausarbeiten. Und dann habe ich das wieder umgesetzt, aufgeschrieben und eingereicht und die haben das dann weiter bearbeitet, bis das das fertig war. Und dann wurde das gefördert, den Verbesserungsvorschlag. Dann habe ich eine Prämie, eine Urkunde bekommen.
v.H.: Wie viele Stunden mussten Sie arbeiten auf der Volkswerft?
W.S.: 8 Stunden, kommt auf die Schicht drauf an.....
v.H.: Ihr Arbeitsplatz war die Schmiede, da war es dann wahrscheinlich heiß?
W.S.: nein, da war es kalt und viel Lärm., die Ohren waren taub und haben gejuckt. Die Spätschicht zu Ende, dann haben die Ohren gejuckt und getrommelt.
v.H.: Gab es Ohrenschutz?
W.S.: ja. ja später auch. Ich hatte auch sehr viele Unfälle.
v.H.: Wie viele Kollegen hatten Sie?
W.S.: Da waren 6 Personen, jede Schicht drei. Und dann wurden die Aufträge größer. Und dann konnten wir Lehrlinge von der BBS beschäftigten, die mussten auch durchlaufen. Und so waren wir mit 14 Personen. Es waren genug Nebenarbeiten, Brennarbeiten und Beulen zu verrichten..... Wir hatten eine 250 Tonnen Hydraulik zum Verformen
Zu den Ereignisses am 17. Juni 1953
Als Lothar geboren wurde (3. Mai 1953), waren in meinem Betrieb, die Volkswerft, heftige Auseinandersetzungen wegen der Norm. Die Stunden für die Aufträge sollten um 10 % gekürzt werden. Dann war der 17. Juni 1953. Die Russen stellten sich mit Waffen vor den Ausgang der Werft.
Der Stralsunder Maler und Grafiker Eckhard Buchholz erinnert sich an die Ausbombung in Stettin, seine Kindheit und Jugend in Stralsund, an die Band "The Hurricans", an sein Arbeitsleben auf der Volkswerft, die Begegnung mit seinem späteren Lehrmeister, dem Stralsunder Maler Prof. Tom Beyer, sein künstlerisches Schaffen während der Werftzeit und die Hinwendung zur Historienmalerei ab 1998
Geboren am 14. März 1941 in Stettin, floh Eckhard Buchholz 1944 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach einer Ausbombung der elterlichen Wohnung in Stettin in die Dienstwohnung seines Vaters in der Franz-Wessel-Straße 10 in Stralsund. Sein Vater war als Offizier der Wehrmacht im Dezember 1942 in Rschew, 180 Kilometer vor Moskau, gefallen. Infolge des Luftangriffs am 6. Oktober 1944 erlebte die Familie erneut das Trauma einer Ausbombung und fand danach Unterschlupf in einer Wohnung in der Straße "Andershofer Ufer". Von 1947 bis 1955 besuchte er die Schule, erlernte anschließend den Beruf eines Kraftfahrzeugschlossers und arbeitete ab 1959 auf der Stralsunder Volkswerft als Motorenschlosser bis zur Vollendung des 58. Lebensjahres im Jahre 1999. Als Autodidakt entstanden ab 1962 erste Arbeiten des Maler und Grafikers. Entdeckt vom Stralsunder Maler Prof. Tom Beyer, war er dessen Schüler von 1976 bis 1979. Danach studierte er bis 1981 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald Kunstgeschichte und absolvierte - alles neben seiner Tätigkeit als Motorenschlosser auf der Werft ein einjähriges Fernstudium an der "Kunsthochschule Berlin Weißensee". Zahlreiche seiner damaligen Werke wurden auf der Volkswerft ausgestellt und schmückten die Räumlichkeiten der Werft, so manches Bild wurde auch als Geschenk anlässlich der Übergabe eines Schiffes an den sowjetischen Kapitän angefertigt. Ab 1991 Mitglied im pommerschen Künstlerbund , zu dessen 2. Vorsitzender er 1992 gewählt wurde, wandte sich der Künstler ab 1998 der Historienmalerei zu und setzte bis 2020 zahlreiche historische Ereignisse wie die Christianisierung Pommerns durch Bischof Otto von Bamberg 1128, den Besuch des Reformators Johannes Bugenhagen in Stralsund im Mai 1535 oder die Belagerung Stralsunds durch Wallensteins Truppen 1628 in Szene. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland u.a. des von ihm geschaffenen Wikinger-Zyklus machten Eckhard Buchholz weithin bekannt. Mehr über den Menschen und den Künstler Eckhard Buchholz und sein umfangreiches Werk erfahren Sie in aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Pommern (Zeitschrift für Kultur und Geschichte) 61. Jahrgang, Heft 1/2023, auf den Seiten 41 - 45 "Vom lauten zum leisen Kunstschaffen des Historienmalers Eckhard Buchholz in Stralsund" von Eckhardt Wendt mit einer Schlussbetrachtung von PD Dr. Gerd-Helge Vogel und auf seiner Homepage.
Erste Ausschnitte aus dem am 11. Mai 2023 von Herrn Freiherr von Houwald mit Herrn Eckhard Buchholz geführten Interviews (wird fortgesetzt)
Flucht nach Stralsund im Jahr 1944 und der Bombenangriff am 6. Oktober 1944
Ich bin am 14. März 1941 in Stettin geboren. Wir sind in Stettin ausgebombt worden, da war ich drei Jahre alt und wir sind nach Stralsund gezogen. Ich kann mich nur an Sachen erzählen, die Mutter von Stettin erzählt hat. Wir waren dann kurz bei Verwandten in Stettin untergebracht und haben mit der Flüchtlingswelle Stettin in Richtung Usedom verlassen. In Heringsdorf waren Verwandte, wo wir kurz geblieben sind, um dann weiter nach Stralsund zu reisen. In Stralsund hatte mein Vater eine Dienstwohnung als Offizier in der Franz-Wessel Straße 10. Dort konnten wir erst einmal wohnen, bis eine Bombe auch dieses Haus im Oktober 1944 zerstörte. Da kamen die Ami’s und um dreiviertelzwölf sagte Mutter, ich weiß noch, es war Essen auf dem Tisch, jetzt müssen wir in den Keller. So, und dann sind wir in den Keller gegangen und paar Minuten später explodierte oberhalb eine Bombe, und die Mutter sagte, ich flog von ihrem Schoß runter im Keller. Durch Mörtel und Staub, sie konnte mich nicht mehr sehen. 10 Minuten später kamen denn Soldaten mit nem Vorschlaghammer und haben die Wand eingeschlagen, dass wir rauskamen. Ja so ist das gewesen. Wir wohnten nachher durch Bekannte in der Straße Andershofer Ufer, das war ne Siedlung, wo damals die Offiziere wohnten und die waren ja zum Teil im Krieg geblieben und weg, und da haben wir eine Wohnung gekriegt. Und da wohnten wir lange, bis ich dann nachher geheiratet habe und dann sind wir weggezogen.
Haben Sie habe sie sonst noch Erinnerungen an diese frühe Zeit in Stralsund, z.B. als die Russen dann Stralsund eingenommen hatten?
Ja, ich weiß noch oben in Andershof wo wir wohnten, der Opa ging aufs Dach, und sagte, rief runter: „Die Russen kommen“. Und dann kamen die Russen. Und auf dem Dänholm waren noch deutsche Soldaten, die schossen denn immer wieder rüber noch. Und neben unserem Haus stand ne Stalinorgel, die schoss dann da wieder rüber. Das weiß ich noch alles. Und dann kann ich mich auch noch daran erinnern, es saßen drei Russen auf der Treppe draußen, und Opa ging hin und holte ne Flasche Korn war das, was weißes, und goß denen ein, die haben sich sehr gefreut., dass sie nen Schluck abkriegten. Es gab auch sehr gute Russen dabei. Ich weiß noch, sie brachten uns einen großen Käse als Dankeschön, so und dann kam nachher paar Tage später andere Russen, die räuberten das dann wieder weg. Wenn Mutter nun schlau gewesen wäre, kleine Scheiben und irgendwo versteckt. Ja so war dat gewesen, es gab gute Russen und schlechte. Und ein Russe, den mussten wir einquartieren, Michel hieß der, und draußen war Theater gewesen, ham se geschossen und so weiter, die wollten auch mit Frauen irgendwie, „Frau 5 Minut“ und so weiter und so fort, und der schoß denn, der Michel, in die Luft und denn sind die anderen abgehauen. Es gab auch gute dabei, da kann man nichts zu sagen. Das sind so Erinnerungen.
Wo sind Sie zur Schule gegangen? Mit wieviel Mitschülern waren sie in einer Klasse?
Zur Schule bin ich oben in Andershof im Gutshaus gegangen. Die ersten Klassen und dann nachher zur Stadt – 5 km zur Stadt gelaufen. In die Fritz-Reuter-Schule (Anmerkung v.H: ehemalige Frankenvorstadtschule, heute Jona Schule). Und da hatte ich auch Schuhe vom Vater angehabt, die mal größer waren und damit dann los gelatscht, wie das damals so gewesen ist. War aber ne ganz schöne Tour, 5 km hin, 5 km zurück. In den ersten Jahren waren in der Klasse 35, 36 Kinder. Und das war in einer großen Halle gewesen, die ersten saßen auf Bänke und die restlichen, die saßen alle auf der Erde, so war dat gewesen.
Wie war die Versorgungslage, haben ihre Eltern beide gearbeitet?
Ne, Vater ist ja im Krieg gefallen. Meine Mutter musste uns beide versorgen, meinen Bruder und mich.
Das ist bestimmt ne schwere Zeit gewesen? – ja natürlich. Haben Sie das auch so gemerkt als Kind?
Nein, nein, als Kind gar nicht. Aber wenn ich jetzt überlege, was man hat, man hat ne Waschmaschine, man hat ne Spülmaschine, das geht alles automatisch, früher war Mutter in der Waschküche für die ganze Siedlung, da gabs dann auch nen Zettel, wo dran steht, wer dran ist, und dann alles per Hand gemacht, das habe ich dann auch beobachtet. Und interessant war dann auch, es war dann auch ein Kindertreffen, die Frauen haben denn auch einen Kuchen gebacken und dann wurde auch was vorgetragen, Gedicht oder Lieder gesungen und das war einmal im Jahr gewesen. Selbstverständlich haben wir auch versucht, Lebensmittel zu bekommen. Da bin ich meinem Bruder los, die Bauern kontrollierten ja auch mit Hund ringsrum um die Felder, und wir mitten ins Feld rein , denn haben wir – was war das – Weizen genommen, rumgebogen, abgeschnitten und ins Hemd gesteckt - mit solchen Bäuchen kamen wir dann nach Hause. Aber man durfte sich nicht erwischen lassen, klar, wir sind auch Kartoffeln stoppeln gegangen, wenn das Feld abgeerntet wurde, haben wir zusätzlich noch ein paar rausgeholt und so weiter. Das war nicht einfach für viele Mütter, die alleinstehend waren, mit Kindern und mussten sich so durchkämpfen.
Gibt es sonst noch etwas, woran sie sich erinnern an ihre Schulzeit? Was haben Sie in ihrer Freizeit gemacht, nach der Schule?
Na ja, wir haben uns auch damals ein bisschen geboxt, geschupsts und Beinhacker gestellt, aber wenn ich das heute so erlebe, dat die schon mit Messern durch die Gegend rennen, dat kann nicht wahr sein. Nach der Schule flog die Schulmappe erst einmal in die Ecke, draußen tobten schon welche mit dem Ball, so dann hat man da mitgemacht, ist logisch. Also Stubenarrest habe ich nicht gekriegt – nie. Aber raus, toben und so weiter und so fort. Im Winter nachher, in Andershof ist ein Teich, da sind wir dann mit Schlittschuhen rauf. Im Sommer haben wir gebadet im Teich und wunderbar. Ich konnte nicht Schwimmen, ich wurde einfach reingestoßen, aber da waren ältere Jungens, die haben aufgepasst. Und so habe ich durch „Hundepaddeln“ dat Schwimmen erst mal gelernt – die anderen haben ja aufgepasst.
Und dann die Lehre....
1956 habe ich dann die Schule beendet und habe eine Lehre angefangen, 3 Jahre in Stralsund als Kfz-Schlosser aufm IFA-Dienst (Industrieverband Fahrzeugbau). Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Kfz-Schlosser zu lernen? Mein Vater war früher auch bei der motorisierten Einheit gewesen. Und ich hab auch Pokale von ihm gesehen, wo er Renne gewonnen hatte und so weiter. Und dann interessierten mich die Motoren, das war für mich das Beste. Und dann haste ein Motorrad repariert und hast ne Probefahrt gemacht, das war ganz wat besonderes gewesen - mit 16 Jahren, das muss man sich überlegen. Und da hatte ich dann in Garz meinen Führerschein gemacht, der Fahrschullehrer wusste aber, dass ich aus Stralsund kam. Da sagte er, Herr Buchholz, aber nur 100 m vor meiner Werkstatt, schieben, schieben nachher….Warum sind Sie nach Garz ausgewichen, haben dort ihren Führerschein gemacht? Da war nen guter Fahrschullehrer. Als 16jähriger konnte ich denn Motorrad fahren. Wie viele Lehrlinge haben mit Ihnen zusammen die Ausbildung gemacht, hat Ihnen die Ausbildung Spass gemacht? Das waren ungefähr so 6 bis 8. Ja - an Motoren arbeiten und laufen lassen, ja dat war wunderbar, dat war nen Herzgefühl. Da haben Sie noch zu Hause gewohnt? Ja, ja natürlich.
Die Lehre war 1959 beendet, und da stellt sich die Frage, wie geht’s weiter? Was hatten Sie vor?
Ich traf einen ehemaligen Schulkollegen und wir sprachen so was man so verdient und der sagte mir, Menschenskinder, komm zur Werft, da verdienst du dat zweifache. Motoren, die sind zwar größer, aber da verdienst du mehr. Ich war da jung verheiratet, mit meiner ersten Frau, wollte für die Familie jetzt auch sorgen, so war es gewesen, und denn bis zum Schluss hab ich da durchgehalten. Wo haben Sie zusammen mit ihrer Frau gewohnt? Bei meiner Mutter. Gab es keine andere Möglichkeit, eine Wohnung zu bekommen? War schwierig gewesen, ja. Und dann hab ich später am August-Bebel-Ufer ausgebaut, oben und dann haben wir da gewohnt - 2 ½ Zimmer.
Wo haben Sie auf der Werft angefangen?
Auf der Reparaturwerft. Wir mussten dann morgens immer rüber, zur Hauptwerft. Wir hatten dann aber auch auf der Reparaturwerft Fischerboote von Sassnitz, die Kutter. Und die haben wir dann auf der Reparaturwerft repariert. Und das war auch interessant gewesen: der nächste Kutter der kam, weil es ja Fischer waren: „Bring mal ein Fass Aale mit“, so ging das dann aber auch. Und dann haben wir uns die Aale aufgeteilt. Das waren ja nur kleine Motoren gewesen, die hat man dann fix fertig gekriegt. Sonst haben wir DMR-Motoren repariert. Das waren Riesendinger., die Hauptmaschine war, glaube ich, 8, 9 Meter lang und dann vier Generatoren, die dann auch gemacht werden mussten. Frauen waren in der Brigade gar nicht beschäftigt. Auf der Reparaturwerft waren nur im Motorenbau waren so 10 bis 12 Männer beschäftigt.
Ein eingeschworenes Team? Ja. Jaaa
Die Band "The Hurricans".....
Was machte man, was haben Sie in der Freizeit gemacht? Man hat sich auch mal mit Kollegen getroffen. Geklönt und dann gab es noch ein Bierchen dazu und fertig ist die Laube. Und nachher hab ich Musik gemacht. Gruppe Hurricanes. Und da waren wir auch viel unterwegs gewesen. Da haben wir in Greifswald gespielt, in Rostock. Im Sommer hatten wir nen Vertrag auf Hiddensee gehabt, in Kloster. Und dann haben wir in Kloster Freitag, Sonnabend und Sonntags gespielt. Und dann Montags mit ersten Dampfer los, ich hatte ja nur das Glück gehabt, mein Chef auf der Werft sagte, brauchst zwei Stunden später erst kommen. Weil man ja abgespannt war, und dann morgens, das lief alles. Wie hat sich die Band zusammen gefunden, haben Sie schon immer Musik gemacht? Wann war der erste Auftritt? Als Jugendlicher, war ich im Intourist, da waren drei Musiker, und der Gitarrist hat mir so gut gefallen, mit Verstärker damals, mit Echo und so weiter – dann habe ich mir das angeguckt, hab mit dem denn gesprochen, dann habe ich mir ne Gitarre gekauft und hab dreimal bei ihm gesessen und wir ham geübt. Und dann habe ich mir nachher ein Buch gekauft – Gitarrenlehre und dann habe ich mir das alles selbst beigebracht. Wann wir den ersten Auftritt hatten, das weiß ich nicht mehr. Interessant war, die Jugendlichen wollten immer englische Titel hören, aber ich konnte ja nicht englisch. Dann habe ich ein Tonband ablaufen lassen und habe mir das aufgeschrieben, wie ich das gehört habe. Das haben die niemals mitgekriegt, wenn wir gespielt haben. Wir hatten uns Noten besorgt, wir hatten uns mit einer Band in Greifswald, die IC Combo, die Noten ausgetauscht. Und dann haben wir damals viele Titel von der Band „The Shadows“ gespielt (Midnight, Wonderful Land, Peace Pipe), da waren wir schon dicke da gewesen. Das war die Zeit, wo die Gitarrengruppen aufkamen. War man damals ein kleiner Star in Stralsund mit der Band, hatten Sie „Schlag“ bei den Frauen? Ja natürlich, auch das. Wenn wir auf Hiddensee gespielt haben, dann kamen viele mit dem Dampfer, hatten sich ne Decke mitgenommen und die haben dann in den Dünen geschlafen. Das war ja gar nicht erlaubt. In Stralsund haben wir im Thälmannhaus gespielt und im Schuppen Greifswalder Chaussee. Da haben wir dann Nachmittags auch für die Jugendlichen gespielt.
The Hurricans, Bild privat
(Eckhard Buchholz, dritter von rechts)
Leseempfehlungen
Achim Schade Matthias Redieck (Hg.) Stralsund im Bombenhagel
Der Bombenangriff vom 6. Oktober 1944 mit Fotos aus der Sammlung Willy Lange
Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Oktober 2014
Martin Holz, zur Bedeutung der Volkswerft Stralsund in der Nachkriegszeit als Arbeitgeber für zahlreiche Vertriebene. Das Kapitel "Volkswerft Stralsund" findet sich in: Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene auf der Insel Rügen 1943 - 1961, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern Reihe V Band 39, Böhlau Verlag Köln, Weimar Wien, 2003, S. 551 - 557
"Arbeit war das ganze Leben "
Was mir Demokratie mit Marktwirtschaft gebracht hat - ein Erfahrungsbericht
Monika Brandt war vom 1. Oktober 1968 bis zum 31. Dezember 2001 als "Wissenschaftliche Mitarbeiterin" auf der Volkswerft beschäftigt. Über ihre ersten Erfahrungen mit der Marktwirtschaft hat sie im Rahmen eines Vortrags anlässlich einer Tagung in der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt vom 11. bis 13. März 2005 berichtet. Ihr Bericht steht stellvertretend für die Erfahrungen, die viele Werftarbeiterinnen und -arbeiter infolge des schmerzhaften Wandels des Stralsunder Schiffbaus gemacht haben. Wir danken Frau Brandt für die Erlaubnis, dieses Zeitzeugnis auf der Homepage veröffentlichen zu dürfen.
"An einem Septembermorgen 2001 fanden die Personalgespräche statt, die die Meisten unvorbereitet trafen. Dann hatten sie zwei Stunden Zeit, ihre Schreibtische zu räumen und den Betrieb zu verlassen. Wenn Sie jetzt vermuten, dass es sich um Arbeitnehmer handelte, die straffällig geworden waren, dann irren Sie sich. Es waren Beschäftigte der Volkswerft Stralsund, die in diesem Betrieb schon 20, 25, 30 Jahre tätig waren, so genannte „junge Alte“ zwischen 45 und 55 Jahren. (Arbeitnehmer über 55 Jahre, die - so wie ich - ihre Kündigung erhalten hatten, durften bis zum Jahresende weiterarbeiten). Der Schock saß tief, denn jeder war mitten aus seiner Arbeit gerissen, die Computer liefen noch, als die Einzelnen zum Personalgespräch geholt wurden. Mit dem, was die Kollegen in den verbleibenden 2 Stunden zusammenräumten, verließen sie dann den Betrieb, vorbei an den Kolleginnen und Kollegen, die es diesmal nicht getroffen hatte. Von denen wagte keiner hochzugucken. Kein tröstendes, kein freundliches Wort, keine Hilfestellung und erst recht kein Dank für jahrzehntelange Arbeit. Und kein Betriebsrat hatte eine solche Verfahrensweise verhindert. Wer so aus dem Betrieb gejagt wird, hat lange mit der Aufarbeitung zu tun. Ich hatte nach meiner Kündigung im Freundeskreis den Satz gesagt: „Ich bin froh, dass es vorbei ist!“ Diesen Satz verstanden alle, die die Atmosphäre in den ehemaligen volkseigenen Betrieben kannten, die schon eine oder mehrere Kündigungen hinter sich hatten, aber kaum jemand, dem diese Situation fremd war, was vor allem für meine Freunde in den Altbundesländern zutraf. Dabei hatte ich in diesem Satz das Erlebte aus den letzten 12 Arbeitsjahren zusammengefasst. Das möchte ich im Folgenden auch für Sie tun, denn so wie uns ist es vielen im Osten Deutschlands ergangen, und heutige Verhaltensweisen lassen sich vielleicht besser verstehen....."