Stralsund erinnert sich !!!

Interessieren Sie sich für die Lebensgeschichte anderer Menschen oder möchten Sie andere Menschen an Ihren Erinnerungen teilhaben lassen? Dann sind Sie hier richtig gelandet. Wir möchten die Geschichte Stralsunds und ihrer Umgebung einmal anders erzählen - nämlich aus der Perspektive von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in Stralsund und heutigen Landkreis Vorpommern-Rügen irgendwann einmal gelebt haben oder noch heute leben. Möchten Sie Ihre Erinnerungen für andere Interessierte zugänglich machen oder haben Sie Anmerkungen und/oder weiterführende Informationen, dann nehmen Sie mit uns Kontakt auf. Wir freuen uns auf Ihre Reaktionen. Die Lebenserinnerungen werden vom Stralsunder Geschichtsverein jeweils ergänzt um weiterführende Informationen und Leseempfehlungen. 

Bisher finden Sie hier die Lebenserinnerungen von:

  • Jürgen Bahr (Februar 1945 bis Mai 1954)
  • SR Dr. Käthe von Wedelstädt  (Studium 1947 Universität Greifswald anschließenden Tätigkeit als Zahnärztin in der Betriebspoliklinik der Stralsunder Volkswerft, Ereignisse des 17. Juni 1953 in Berlin und Stralsund
  • Eckhard Buchholz (Bombenangriff in Stralsund im Oktober 1944, Nachkriegszeit, Schule und Ausbildung, Beschäftigung auf der Volkswerft - wird fortgesetzt)
  • Werner Schulz (Beschäftigung auf der Volkswerft ab 3. November 1949, Ereignisses am 17. Juni 1953 in Stralsund, wird fortgesetzt)
  • Monika Brandt (Ereignisse am 17. Juni 1953 in Stralsund)
  • Monika Brandt (Beschäftigung ihres Vaters Albrecht Brandt vom 1. September 1949 bis 31. Dezember 1964 als Schiffbauingenieur auf der Volkswerft Stralsund)
  • Monika Brandt "Arbeit war das ganze Leben, Was mir Demokratie mit Marktwirtschaft gebracht hat - ein Erfahrungsbericht

Jürgen Bahr erinnert sich an die Nachkriegszeit Stralsunds (Februar 1945 bis Mai 1954) als Flüchtlingskind

„Unglaubliche Veränderungen in dem Bereich Greifswalder Chaussee 1a-Bahnhofstr. 2“, so lautete die Betreffzeile einer EMail an das Stralsunder Stadtarchiv im November 2022. Der Absender der Nachricht war Ende Januar/Anfang Februar 1945 zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, aus Landsberg an der Warthe (heute heißt die zur polnischen Woiwodschaft Lebus gehörende Stadt Gorzów Wielkopolski) kurz bevor die Stadt von der Roten Armee eingenommen worden ist, nach Stralsund geflüchtet und lebte hier bis Mai 1954. Stralsund war die Geburtsstadt seiner Mutter, hier wohnte noch seine Großmutter und seine Tante. In Vorbereitung auf seinen 90zigsten Geburtstag im August 2023, hatten ihn seine Kinder gebeten, Fotos und Berichte aus seinem Leben zusammenzustellen. Und so hatte er sich für weitere Auskünfte an das Stadtarchiv gewandt. Schnell war die Idee geboren, Herrn Jürgen Bahr um eine Schilderung seiner Erlebnisse in Stralsund von Februar 1945 bis Mai 1954 und seine Zustimmung zu einer Veröffentlichung auf unserer Homepage zu bitten. Das schriftliche Interview mit dem heute in Essen lebenden Dipl. Volkswirt wurde von Herrn Freiherr von Houwald ab Dezember 2022 geführt und zum Zwecke der Veröffentlichung geordnet und leicht bearbeitet. Es wird nun im  Einverständnis von Herrn Bahr veröffentlicht und soll zukünftig mit Fotos und weiterführenden Hinweise ergänzt werden. 

Ecke Bahnhofsstraße 2/Greifswalder Chaussee 1a, um 1991, Fotos Privat
Auf dem Bildern ist noch die Schranke zu sehen, die nach der Umbenennung der Bahnhofsstraße für den heutigen Straßennamen "Zur Schranke" Namensgeber war.

 Eigentümer der beiden verbundenen Häuser war der Tischlermeister Genzmann. Eine hinter den beiden Gebäuden befindliche Schreinerei  und Werkstatt- und Maschinengebäude existieren heute nicht mehr. Die Großmutter von Herrn Bahr bewohnte eine Wohnung in dem linken Haus, dass heute schön restauriert die Aufschrift "Stralsunder Sensenschärferfabrik  C.H. Schwabe trägt. Hier fand Herr Bahr nach der Flucht zunächst Unterschlupf. Später bewohnte die Familie eine Wohnung im ersten Stock des daneben befindlichen Eckhaus Greifswalder Chaussee 1a.

Herr Bahr, wann und wo wurden Sie geboren? 

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Ich wurde am 24. August 1933 in Landsberg an der Warthe geboren. 1936 wurde mein jüngerer Bruder geboren. Unser Vater war Dipl. Landwirt und leitete das Gut Oberhof am nördlichen Stadtrand von Landsberg/Warthe, das zur Max-Bahr AG – Jute-Spinnerei und -Weberei, Plan- und Sackfabrik, Landsberg an der Warthe gehörte. Er starb allerdings schon 1937 mitten in der Ernte und meine Mutter und wir Kinder mussten das Gut verlassen. Wir erhielten eine schöne Wohnung in der Brückenvorstadt von Landsberg (linksseitig der Warthe). Das Haus gehörte ebenfalls der Jute, die zur damaligen Zeit von meinem Großvater Paul Bahr geleitet wurde.

Erinnern Sie sich an die Umstände der Flucht? 

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Ja, natürlich. Zum Zeitpunkt unserer Flucht aus Landsberg war ich knapp 11 ½  Jahre alt. Wir hatten ja schon vorher die Trecks der Leute gesehen, die aus dem Osten kommend durch Landsberg gen Westen zogen. Großvater Paul Bahr hatte meine Mutter informiert, das Fluchtgepäck vorzubereiten. Landsberg lag ja an der damaligen Reichsstr. Nr. 1, die über Berlin bis nach Königsberg in Ostpreußen ging. Weiterhin war Landsberg Station der Ostbahn, die ebenfalls bis nach Ostpreußen ging. Am frühen Morgen des 30. Jan. 1945 – unsere Mutter hatte schon alles zur Flucht vorbereitet und gepackt – rief mein Großvater aus der Fabrik an, er könne den LKW der Jute nicht an unser Haus fahren, wir sollten in die Fabrik kommen und würden dort einsteigen. Draußen waren erhebliche Minusgrade und es war viel Neuschnee gefallen. Also ließ unsere Mutter die Mehrzahl des vorbereiteten Fluchtgepäcks im Hausflur stehen, wir packten einen Koffer und ein paar Kleinigkeiten auf unseren Schlitten und dann zogen wir die ca. 2 km bis zur Fabrik, die ebenfalls in der Brückenvorstadt lag. Dort wurden wir auf die Ladefläche eines LKW „verladen“, die mit einer Textil-Plane ein wenig geschützt war. Der Fahrer positionierte auch unseren Koffer hochkant auf die seitliche Ladeklappe – als Schutz vor Beschuss – wie er sagte – und los ging die Fahrt in Richtung Berlin. Die Fahrt für die ca. 150 km bis dorthin dauerte mehr als 12 Stunden durch die Überbelegung der Reichsstraße 1 mit anderen Fahrzeugen, vornehmlich von Pferden gezogene Gespanne von anderen Flüchtlingen. Was wir erst abends in der Berlin feststellten: Der zum Beschuss-Schutz auf die Ladeklappe gestellte Koffer meiner Mutter mit allen wichtigen Unterlagen und Ausweispapieren war weg: er muss – durch das Gerüttel des Fahrzeugs - nach außen durch die Verspannung der Abdeckung gerutscht und unbemerkt auf die Straße gefallen sein. Wir waren ohne Beschuss bis nach Berlin gekommen und hatten nunmehr nichts, außer dem, was wir an Kleidung an hatten. Ich entsinne mich noch, dass in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 kein Fliegeralarm war und dass wir irgendwo in Berlin geschlafen haben. Der LKW ist weitergefahren bis zur Jute Sackfabrik in Magdeburg. Woher meine Mutter das Geld für die Fahrkarten nach Stralsund bekommen hatte, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob meine Mutter in Berlin ihren Bruder Hermann Skorupke kontaktiert und er uns dann geholfen hat, nach Stralsund weiter zu kommen. Wir sind jedenfalls am nächsten Tag mit dem Zug nach Stralsund gefahren

Warum ist Ihre Familie nach Stralsund geflüchtet?

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Stralsund war der Geburtsort meiner Mutter (geb. 1904). Sie entstammte der Stralsunder Handwerker-Familie Skorupke mit einem Ladengeschäft für Kürschnerarbeiten in der Mönchstr. 32. Im Frühjahr 1945 lebten in Stralsund in dem Haus Bahnhofstr. 2 – Ecke Greifswalder Chaussee 1a noch ihre Mutter, also meine Großmutter, und ihre ältere Schwester, meine Tante.

Wo haben Sie nach der Flucht in Stralsund Unterschlupf gefunden? Wie waren die Wohnverhältnisse?

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Wir kamen am 31. Januar 1945 am Nachmittag in Stralsund an und gingen zu Fuß in die Bahnhofstr. 2 zur Großmutter und Tante, die natürlich völlig überrascht waren, denn sie hatten kein Telefon, sodass wir sie ja auch nicht vorher informieren konnten. Heute heißt die frühere Bahnhofsstraße „Zur Schranke“. Dort hatten meine Großeltern Skorupke mindestens seit 1935 gewohnt  (seit wann genau, ist mir nicht bekannt; jedenfalls seit der Aufgabe des Kürschnerei-Geschäftes meines Großvaters Hermann Skorupke in der Mönchstr. 32). Auch die ältere Schwester meiner Mutter hat dort gewohnt. 
Als wir nach unserer Flucht aus Landsberg in Stralsund angekommen waren, wohnte wir alle zusammen in der 3-Zimmerwohnung meiner Großmutter. Hier befanden sich ausreichend Betten, denn die beiden Söhne meiner Tante, meine Vettern, geb. 1925 und 1927, waren beide eingezogen und im Kriegseinsatz. Das Haus in der damaligen Bahnhofstr. 2 und das damit verbundene Haus Greifswalder Chaussee 1a gehörten dem gleichen Eigentümer, dem Tischlermeister Genzmann, Auf dem Grundstück hinter den beiden Gebäuden befanden sich die Schreinerei mit Werkstatt- und Maschinengebäuden. Diese Gebäude existierten bei unserem Besuch in 1991 nicht mehr. Die Wohnung hatte kein Badezimmer. Ich weiß noch, es wurde im Keller in der dortigen Waschküche (für alle Mitbewohner) ein Feuer gemacht und Wasser gewärmt und dann wurden wir beide erst einmal tüchtig abgeschruppt und dann ins Bett gesteckt. Diese waren ja wie gesagt vorhanden, denn die beiden Söhne meiner Tante waren ja als Soldaten eingezogen. 

Was sind Ihre ersten Erinnerungen an die Zeit nach der Ankunft?

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In den Tagen nach unserer Ankunft hat unsere Mutter die notwendigen Anmeldungen gemacht, schließlich mussten wir Lebensmittelkarten usw. haben. Wie Sie ja wissen, war Stralsund am 6. Oktober 1944 schwer bombardiert worden, auch die in der Bahnhofstr. gelegene Zuckerfabrik hatte Treffer abbekommen. Unsere Mutter, die in den beiden letzten Kriegsjahren in Landsberg zum Roten Kreuz eingezogen worden war und dort Bahnhofsdienst in DRK-Kleidung getan hatte, hatte zufällig diesen Ausweis in ihrem Mantel gehabt, ihn also „gerettet“. Sie hatte in Stralsund eine gute Schulfreundin, die später Ärztin geworden war. Dort hoffte sie, Arbeit zu bekommen, damit sie wenigstens etwas Geld für uns verdiente. Sie erlebte einen ziemlichen Schock: Ihre Schulfreundin, jetzt Frau Dr. med. Lotte Kummer, gehörte mit zu den Opfern des Bombenangriffes. Sie war im Keller des Praxishauses mit ihren Patienten getötet worden.
Ich weiß nichts mehr über die Art und Weise, wie uns unsere Mutter in der ersten Zeit in Stralsund versorgt hat. Ich weiß nur noch, dass mein Bruder und ich ziemlich bald danach eingeschult wurden und wir vor Kriegsende noch einige Wochen zur Schule gegangen sind; ich nach meiner Erinnerung, in ein Gebäude hinter der Marienkirche. Aber der Krieg rückte auch nach Stralsund näher und die Verwaltung beschloss im April 1945, etwa 150 m stadtauswärts von unserem Haus entfernt, an dem Speicher der Zuckerfabrik eine Panzersperre zu bauen, quer über die Greifswalder Chaussee. Baumstämme wurden von irgendwo herbeigeschafft und eingesetzt. Am 1. Mai 1945 abends, wir hockten im Keller des Hauses Bahnhofstr. 2, einige Mitmieter waren geflohen, hörten wir die Panzer auf der Greifswalder Chaussee fahren. Am späten Nachmittag hatten wir schon eine große Explosion gehört, einige Tage später kam dann die Information: Man hatte die Rügendamm-Brücke vor der Insel Dänholm gesprengt. Und die Panzersperre??? Die Fahrspuren zeigten uns später: Die Panzer waren einfach seitlich durch die Gärten gefahren. Die Bewohner der umliegenden Häuser wurden dann „beauftragt“, die Baumstämme zu entfernen und die Straße soweit wie möglich wieder befahrbar zu machen. Die Bäume waren im Nu weg, schließlich hatten wir Strom- und Gassperre, also war Heizmaterial zum Kochen sehr gefragt. 

Wie waren die Lebensbedingungen nach der Einnahme Stralsunds? Gab es ausreichend zu essen? Sie haben erzählt, dass die Wohnung an der Eisenbahn die Versorgung gesichert habe.

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Es war ein warmer Sommer. Man musste für alles lange anstehen, wobei nicht Minuten oder Viertelstunden gemeint sind, sondern viele Stunden. Es gab nicht ausreichend zu essen. Parallel zur Bahnhofstr. gab es damals eine einspurige Güterbahn-Strecke, die vom Bahnhof bis zum Hafen von Stralsund führte. Über die diversen Gleisanschlüsse wurden die Industriebetriebe in unserer Gegend (u. a. die Zuckerfabrik und eine Gasanstalt) oder im Hafen (Sauerkraut-Fabrik) mit Kohle und den Landwirtschaftlichen Basisprodukte versorgt, die sie zu Nahrungsmitteln verarbeiteten. Wenn also die Lokomotive die für einen Betrieb bestimmten Waggons über deren Gleisanschluss dorthin schob, stand der übrige Zug auf der Strecke still und war unbewacht, was eben die Anwohner der Bahnhofstr. und der Häuser der Greifswalder Chaussee nutzten, den Inhalt der meistens offenen Waggons nach Brauchbarem zu „kontrollieren“. Ich war damals knapp 12 Jahre alt und war nicht besonders groß. Es war also gar nicht so leicht, auf die Waggons hinaufzukommen. Mein jüngerer Bruder und meine Mutter sammelten auf, was ich von oben runter warf. So lernten wir Zuckerrüben und Wrucken essen und fanden Kohle, um zu heizen. Gegen Herbst 1945 wurde diese „Kontrolle“ immer gefährlicher, weil die zuständigen Behörden diesen „Schwund“ nicht mehr tolerierten und bei einigen Zügen Bahnpolizisten einsetzten. Mit unserer „Vertreibung“ aus der Wohnung meiner Großmutter in der Bahnhofstr. 2 endete diese „Überlebens-Arbeit“ für mich.
Die Splitter vom Abbau der Panzersperre, die für uns „abgefallen“ waren, haben nicht lange vorgehalten. Das Baumholz hatten sich die Besitzer von Sägen und Äxten gesichert. Wir, Eberhard und ich, sammelten – tagsüber - wieder die Späne, damit hatten wir etwas Energie zum Kochen auf dem Hof, denn es gab kein Gas für den Herd. 
Nachts war strenge Ausgangssperre. Später, nach der Getreide-Ernte sind wir „stoppeln“ gegangen, d. h. wir haben auf den abgeernteten Feldern in der Umgegend nach abgebrochenen Ähren gesucht, in denen noch die Körner enthalten waren, später – nach der Kartoffelernte - haben wir liegen gebliebene Kartoffeln gesammelt. Es muss in der Umgegend von Stralsund Zuckerrüben-Mieten gegeben haben, die im Herbst 1944 infolge des Bombenangriffs in Stralsund nicht in der bombengeschädigten Zuckerfabrik in unserer Nachbarschaft verarbeitet werden konnten. Als man 1945 mit den Reparaturen vorangekommen war, wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Die Zuckerrüben wurden teilweise mit Loren auf einer Schwebebahn, die die Greifswalder Chaussee bei dem Zuckerspeicher überquerte, ins Werk gefahren. Ab und zu „kippte mal eine Lore“ um und wir sammelten dann die Zuckerrüben auf. Ich entsinne mich, dass wir in dem großen Waschkessel im Keller in der Gemeinschafts-Waschküche die sorgsam geschälten Rüben gekocht und dann später gegessen haben.

Jürgen Bahr, Foto Privat, 1945

Heutige Ansicht Bahnhofstraße 2 (heute Zur Schranke) Ecke Greifswalder Chaussee 1a
Foto Privat, 2023

Der Stadtplan von 1939 zeigt die Straßenführung nach dem Bau des Rügendamms 

Der Stadtplan von 1911 zeigt die Schienen entlang der Bahnhof-straße und die Seilbahn von der Zuckerfabrik

Wie war das Verhältnis zu den russischen Soldaten bzw. zur Besatzungsverwaltung?

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Es muss einige Tage nach dem Einmarsch nach Stralsund gewesen sein, da requirierte die russische Armee einige der leeren Wohnungen in den beiden Häusern Greifswalder Chaussee 1a und Bahnhofsstr. 2, um dort das Personal unterzubringen, das die große Kreuzung zu kontrollieren und die Russischen Fahrzeuge einzuweisen hatte. Die Familie S., die die Wohnung im Parterre direkt gegenüber unserer Wohnung bewohnt hatte, war auch geflohen. Sie wurde auch mit Wachpersonal besetzt, wozu auch weibliche Soldaten gehörten. Eine der Soldatinnen, die dort Quartier bezogen hatten, klingelte bei uns Sturm und schrie „Sabotage, Sabotage  Babuschka [russ. Großmutter] Du kommen und schauen“. Meine Großmutter ging mit, die Soldatin zeigte ihr die Klo-Schüssel, dort lagen einige Kartoffeln, die sie waschen wollte, sie zog an der Strippe zum Wasserkasten oberhalb des Klos und weg waren die Kartoffeln: „Du sehen, Sabotage!!“ Es dauerte eine Weile, bis meine Großmutter der Frau in der Küche die Spüle gezeigt und die Kartoffel-Reinigung dort vorgeführt hatte. Ab dann hatte Großmutter einen hervorragenden Status. (Und wir haben uns gekringelt vor Lachen). Aus den eingelagerten Brettern des Tischlermeisters und Hauseigentümers in seiner Werkstatt im Hof wurde an der Kreuzung ein Triumphbogen gebaut mit Bildnissen von Stalin und anderen. Ansonsten hatten wir keine Berührungen mit den russischen Soldaten bzw. zur Besatzungsverwaltung. Im Winter 1945 auf 1946 haben wir nicht in der Bahnhofstr. 2 wohnen können. Die russische Standortkommandantur entschied, dass sie den ganzen Hauskomplex für sich und die Kreuzungs-Kontrolle haben wollte. Die restlichen deutschen Mitbewohner  mussten raus mit einer Ausnahme: der Gebäudeeigentümer und Schreinermeister durfte bleiben. Er nahm sich die Wohnung meiner Großmutter in der Bahnhofstr. 2.


Wo haben Sie nach der Ausquartierung durch die Standortkommandantur gewohnt?

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Meine Großmutter und meine Tante fanden Unterkunft im Hause der Firma Pumpen Wahl in der Langenstraße. Zur Firma gehörte eine Lichtpause-Abteilung, in der meine Tante sogar Arbeit fand. Wir Drei irrten einige Tage in unterschiedlichen Bleiben in Stralsund umher, bis meine Mutter eine Einweisung in ein Zimmer (mit Küchenbenutzung) in einer Wohnung im 2. oder 3. Stock in der Mönchstr. (die Nummer weiß ich nicht mehr – aber das Haus lag weiter hinten in der Stadt) erhielt und wir dort dann unterkamen. Die Eigentümerin der Wohnung war nicht gerade erbaut über diese Zwangs-Einquartierung. Meine Mutter hatte – vielleicht sogar unterstützt durch ihren im einzigen (Flucht-)Mantel gefundenen DRK-Mitarbeiter-Ausweis (mit Bild) aus Landsberg - zwischenzeitlich eine Stelle im Ärztehaus in der Marienstraße hinter der Marienkirche bekommen und zwar in dem Labor für die EKG-Filme. Dieses Verfahren war damals gerade im Entstehen: Die Herzkurven wurden auf einem Film aufgezeichnet, dieser Film wurde von Mutter in dem Labor entwickelt, an Wäscheleinen zum Trocknen aufgehängt und dann musste der entwickelte Film nach einem bestimmten Raster in ein Heft eingeklebt werden. Dieses Heft ging dann an den behandelnden Arzt zurück. Ich habe ein paar Mal Mutter in ihrer Arbeitsstelle besucht, die „Wäscheleinen“ hingen immer voll mit Filmen.

Mehrere Dinge sind mir aus dieser Zeit unseres Wohnens in der Mönchstr. in Erinnerung geblieben: Hinter dem Haus war eine Art Hof-Garten mit einem hochgewachsenen Baum, von dem ein einzelner Ast bis auf den Küchenbalkon der Wohnung reichte. Eines Tages bemerkten wir, dass sich hinter dem verglasten Küchenschrank - mit einer kleinen Gardine innen – etwas bewegte. Wir schauten nach: es war eine Maus, die sich dort an den eingelagerten Vorräten vergnügte. Sie muss über den Ast in die Küche gekommen sein. Neben der Marienkirche zum Neuen Markt hin, richtete die Sowj. Besatzung einen Friedhof für ihre verstorbenen Soldaten ein. Ich erlebte in einer Schulpause eine solche Beerdigung, neugierig gemacht durch die Musik einer Blaskapelle. Dann Stille, eine Formation auf beiden Seiten des Grabes sollte einen Ehrensalut abfeuern. Offensichtlich hatte man keine Platzpatronen geladen, denn als das Kommando zum Feuern kam, drückte einer der Schützen zu früh auf den Abzug und auf der Gegenseite fiel einer der Soldaten (sehr zu unserer heimlichen Freude!!) um. Diese Freude verstärkte sich noch, da der kommandierende Offizier seinen Revolver zog und den unglücklichen Schützen erschoss. Wie es weiter ging, weiß ich leider nicht, denn die Pause war zu Ende und wir mussten zurück in die Klasse. In der Küche der Wohnung gab es einen damals üblichen Herd, der einen Bereich hatte, in dem man mit Holz und Kohle Warmwasser erzeugen konnte. Brennmaterialien waren aber sehr knapp, folglich kamen Eberhard und ich auf die Idee, in den Trümmergrundstücken nach Holzresten zu suchen, die wir auch reichlich fanden und mitbrachten. Das wurde auch durchaus akzeptiert. Aber so mit der Zeit wurden wir „mutiger“ und rüttelten an teilverkohlten Holzbalken, die noch aus dem Mauerwerk ragten. Leider erzählten wir dies stolz Zuhause und bekamen zu unserer Überraschung ein unglaubliches Donnerwetter zu hören über mögliche Einsturzgefahren. Ab dann war es mit der Holzsuche vorbei. Dass Brennmaterialien auch anderswo knapp waren, lernte ich sehr eindrucksvoll: In der Schule waren statt der Zentralheizung in jeder Klasse Einzelöfchen aufgestellt, die mit Briketts beheizt wurden. Eines Mittags (Winter 1945/46) hatte ich irgendetwas in der Schule vergessen und eilte in den Klassenraum zurück, es zu holen, und traf meinen Lehrer an, der gerade ein paar von den nicht verheizten Briketts in seine Aktentasche einsteckte.

Warum sind Sie im Frühjahr 1946 wieder umgezogen?

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Als im Frühjahr 1946 die Kontrollposten der Kreuzung aus dem Haus in der Greifswalder Chaussee 1a auszogen, konnten wir wieder in das Haus unserer Ankunft zurückziehen. Da der Hauseigentümer aber die ehemalige Wohnung meiner Großmutter behielt, konnten wir nur in seine ehemalige 4-Zimmer-Wohnung im ersten Stock der Greifswalder Chaussee 1a einziehen, was auch zunächst sehr positiv schien, denn mein Vetter Harro war aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden und war nach Stralsund zu seiner Mutter gekommen. So waren wir zunächst 6 Personen in der Wohnung. Das absolut Negative an dieser Wohnung war das Plumps-Klo 50 m über den Hof bei der Schreiner-Werkstatt. Später sind wir in den Eckteil der Wohnung, also in Richtung Bahnhofstr., umgezogen, und Herr und Frau K. sind in die beiden Räume zur Greifswalder Chaussee Seite eingezogen. Herr K. arbeitete auf der Volkswerft.

Wo sind Sie in Stralsund zur Schule gegangen?

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Nach unserer Flucht von Landsberg an der Warthe nach Stralsund wurde ich im Februar 1945 in die Städtische Oberschule für Jungen eingeschult.  Nach meiner Erinnerung muss sie in der Nähe der Turmseite der Marienkirche gelegen haben, denn von dort habe ich ja Herbst 1945 die „Beerdigung“ auf dem Sowj.-Soldaten-Friedhof auf der Neumarkt-Seite der Marienkirche beobachtet. Ich habe noch alle Originalzeugnisse. Diese sind allein durch ihre Ausstreichungen, Überstempelungen und Umbenennungen sicherlich Stücke der Zeitgeschichte. Die erste Schule hieß gem. Formblatt „Ferdinand von Schill Schule“. Vor dem Einmarsch der Roten Armee in Stralsund am 1. Mai haben wir keine Zeugnisse mehr bekommen. Mein Bruder Eberhard (geb. 2. Januar  1936) wurde in die Frankenschule eingeschult.

Als im Herbst 1945 die Schule wieder begann – wir waren damals schon aus der Bahnhofstr. 2 vertrieben worden und wohnten jetzt in der Mönchstr. zu dritt in einem Zimmer zur Untermiete – ging ich wieder zu meiner Schule und wurde dort aber wieder in die 5. Klasse eingestuft. Ich erhielt sogar ein Zeugnis für die ersten 2/3 der Schulzeit 1945/46 in der Klasse 5a – ohne direkte Datumsangabe.  Auf diesem Zeugnis war zum ersten Mal das Unterrichtsfach „Russisch“  angegeben, das vorgedruckte Wort „Englisch“ war heftig überschrieben worden. Auch das alte Zeugnis-Formular mit der gedruckten Aufschrift „Ferdinand von Schill-Schule“ war durchgestrichen, seitlich ein Stempel mit „Schiller Oberschule Stralsund“ angebracht. Auch im Unterschriftsbereich des Schulleiters – vorgedruckt mit „Oberstudiendirektor“ waren der Wortteil „Oberstudien“ durchgestrichen, so dass nur „direktor“ übrig blieb. Bemerkenswert auch der Unterschriftsbereich für die Eltern des Schülers: Hier war vorgedruckt: „Unterschrift des Vaters oder Vormundes:“ (von Mutter war nicht die Rede, sie war ggfs. unter „Vormund“ unterschriftsberechtigt). Meine Mutter unterschrieb damals deswegen mit „Frau Maria Bahr“. Mein Versetzungszeugnis, gleichzeitig das Zeugnis für das 3/3 des Schuljahres 1945/46, in die Klasse 6 der Grundschule zeigt wiederum kein Datum. Interessanterweise wurde auch das Wort „Englisch“ belassen und kein Wort über „Russisch“ ist auf dem Versetzungszeugnis vorhanden.

Durch die Schul-Behörde der Stadt Stralsund wurde – aus mir unbekannten Gründen – zumindest unsere Klasse in eine Schule in der Knieper-Vorstadt verlegt, wodurch  sich mein Schulweg beträchtlich verlängerte. Das Zeugnis trägt den gestempeltem Namen: „Lambert-Steinwich Schule für Knaben Stralsund“ und die Klasse wird als Klasse 6a bezeichnet. Von „Russisch“ wird kein Wort erwähnt, dagegen wird der Englisch-Unterricht bestätigt. Ich entsinne mich, dass ich im Winter 1946 auf 47, als die Teiche rund um die Innenstadt zugefroren waren, über das Eis des Franken- und des Knieper-Teiches zur Schule gegangen bin und dadurch den Schulweg ziemlich verkürzte. Dann – 1947 - wurde unsere Klasse insgesamt wieder verlegt und zwar jetzt in die Schule am Frankenwall. Die Schule hieß inzwischen „Deutsche Einheitsschule – Grundschule“ und - für mich später sehr bedeutsam - : wir hatten durchgängig 3 Fremdsprachen: Englisch, Latein und – ohne Note – eine Anfänger-Arbeitsgemeinschaft in Russisch. An ein sehr besonderes Detail unseres damaligen Unterrichts im Fach Erdkunde erinnere ich mich: dass wir keine Atlanten hatten und die Schule auch keine großen Aufhängekarten von Deutschland. Einer unserer damaligen Lehrer für Erdkunde hat sich für den Bereich Erdkunde Deutschland eine Ersatzlösung ausgedacht.  Er verwendete von ihm hergestellte Matritzen, die dann von ihm mit einem speziellen Drucker (Ormigverfahren) vervielfältigt wurden. Auf diesen Matritzen zeichnete er nach und nach die Läufe der großen Flüsse in Deutschland auf, zeichnete die Läufe der größeren Nebenflüsse dazu und machte Punkte am Hauptfluss oder an den Nebenflüssen. Kein Wort war zu sehen. Dann machte er mit dem genannten Ormig-Drucker, den man damals schon kaufen konnte, Abzüge für jeden von uns aus der Klasse. Dann wurde im Unterricht Schritt für Schritt erreicht, den Fluss-Linien und den Punkten Namen zu geben. Wie er bzw. wir das im Einzelnen gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich haben wir unsere privaten Atlanten genutzt. Ich den von meinen Vettern. Was ich jedoch noch erinnere, dass er uns, wenn wir einen Fluss genau beschrieben hatten, einen Vers nannte, den wir auswendig lernen mussten: hier zwei Beispiele: DONAU: „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg“ – „Iller, Lech, Isar, Inn strömen rechts zur Donau hin“- „Altmühl, Naab und Regen“ links entgegen“. WESER: „Wo Werra sich und Fulda küssen, sie ihren Namen lassen müssen, und es entsteht durch beider Kuss, deutsch bis zum Meer der Weserfluss“. Die Erinnerungs-Hilfen für Rhein, Oder und Wechsel müssen wohl weniger gut gereimt gewesen sein, denn ich erinnere sie nicht mehr. Den Zeugnissen der Schule am Frankenwall kann ich heute auch entnehmen, dass sich die Unterschriften-Bezeichnungen angepasst hatten. Aus Oberstudiendirektor war „Schulleiter“ geworden, dazu Klassenleiter und aus „Vater oder Vormund“ war „Erziehungsberechtigter“ geworden. Meine Mutter hatte dann auch nur mit ihrem Namen unterschrieben. Dort habe ich dann im Juli 1949 meinen Grundschul-Abschluss in der 8. Klasse gemacht. Ich war inzwischen fast 16 – hatte also 2 Jahre verloren.

Da damals der Besuch der Oberschule noch zusätzliches Schulgeld kostete, meine Mutter aber in der staatlichen Poliklinik sehr wenig Geld verdiente, versuchte sie bei der Behörde einen Schulgeld-Erlass oder eine deutliche Absenkung zu erhalten. Ihr wurde damals diese Unterstützung rundweg abgeschlagen mit der – mir übermittelten – Aussage: „Wir sind ein Arbeiter- und Bauern-Staat – wir füttern keine Akademiker-Kinder“. Also suchte meine Mutter nach einer weiterführenden Schule und fand die kostenfreie „Wirtschaftsschule Stralsund“, die ich von September 1949 bis Ende Juni 1951 besuchte. Hier hatten wir an Sprachen Englisch, Latein und Russisch. Inzwischen hatte sich aber die Schulbezeichnung geändert in „Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung Stralsund“, was man in einfacher Überstempelung der alten Formblätter erreichte. Dieses Abschlusszeugnis von 1951 ist mir dann später – 1954 – nach meinem Übertritt in die Bundesrepublik als „Mittlere Reife“ anerkannt worden und bildete – zusammen mit der Erlaubnis des Regierungs-Präsidiums Tübingen-Hohenzollern, statt in der damaligen französischen Besatzungs-Zone Französisch als erste Fremdsprache nehmen zu müssen - , Latein als 1. Fremdsprache nehmen durfte, den Startpunkt für meine letzten Ober-Schuljahre vom Herbst 1954 bis zum Abitur im März 1957 und dem anschließenden Studium der Volkswirtschaft.

Das Gebäude der ehemaligen Städtische Oberschule für Jungen in der Bleistraße 4. Das neogotische Gebäude steht gegenüber dem Westportal der Marienkirche. Fotos privat, April 2023

Nach der Flucht wurde Jürgen Bahr ab Februar 1945 zunächst in die Städtische Oberschule für Jungen in der Bleistraße 4 eingeschult.

Die Schule wurde Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts als Realschule errichtet. Aus der Realschule wurde 1882 ein Realymnasium und 1914 eine Oberrealschule. Ab 1941 hieß die Schule  Städtische Oberschule für Jungen.  In DDR-Zeiten befand sich dort eine Berufsschule. Heute wird das Gebäude für Betreutes Wohnen genutzt. 

Langer Schulweg von der Frankenvorstadt ab Winter 1946.
Die Lambert-Steinwich-Schule befand sich oberhalb des Moorteichs "An den Bleichen". 

Jürgen Bahr, Foto Privat, 1949

Ab 1947 besuchte Jürgen Bahr die Einheitsschule-Grundschule am Frankenwall 
(die ehemalige Mittelschule)

Grundschule am Frankenwall, heute Schulzentrum am Sund
Foto Privat, 2023

Wie groß waren die Klassen und sind Sie gerne zur Schule gegangen? 

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Wir waren eigentlich immer weit über 20 Kinder. Wir waren 1949 auf der „Deutschen Einheitsschule – Grundschule“ am Frankenwall noch eine reine Jungen-Klasse. Die einzige weibliche Person war die Lehrerin. Gemischte Klassen habe ich  dann erst 1949 ab September in der Wirtschaftsschule Stralsund (später: Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung) erlebt.  Soweit ich mich erinnere, war ich der einzige Flüchtlings-Junge, also Nicht-Stralsunder. Ja, ich bin gerne zur Schule gegangen, ich fand es immer was Besonderes, wenn mir Erwachsene etwas Nützliches für mich erzählten oder zeigten. Ich habe nie die sogenannten Streiche gegen die Lehrer verstanden: Viele gegen Einen. 

Wie sind Sie als Flüchtlingskind in Stralsund von Ihren Mitschülern und der Stralsunder Bevölkerung behandelt worden? Haben Sie schnell Freunde gefunden? 

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Nein, überhaupt keine. Zum einen war ich ein Flüchtlingskind, zum Anderen hatte ich gar keine Zeit. Ich hatte keine privaten Kontakte zu Mitschülern. Unsere Wohnverhältnisse waren ja nicht so, dass ich Klassenkameraden hätte einladen können. Umgekehrt wurde auch keine Einladung ausgesprochen. Die übrigen Menschen um uns herum bemerkten zwar nicht, dass wir Flüchtlinge waren: Wir sprachen ein Akzentfreies Hochdeutsch. Aber es ergaben sich auch keine weiteren Kontakte, auch nicht aus dem gemeinsamen Konfirmanden-Unterricht in der Heiliggeist-Kirche 1946-1948 in Stralsund. Bis jetzt habe ich vergebens versucht, über das Kirchenarchiv in Greifswald bzw. über die Heilgeistkirche an mehr Informationen zu kommen. Bis auf meine Konfirmationsurkunde der Pfarrgemeinde St. Jacobi-Heilgeist über die Einsegnung am 21. März 1948 und einen vom Januar 1958 stammenden Auszug aus dem Konfirmationsregister habe ich kein einziges Foto von diesem besonderen Tag. Weil die meisten Mitkonfirmanden Stralsunder  waren, habe ich die Hoffnung, dass vielleicht deren Eltern fotografiert haben, in der Kirche selbst oder ihre Kinder im Kreise der Mitkonfirmanden, und das es von diesem Ereignis noch Bilder gibt. 

Klassenfahrt nach Hiddensee zum Abschluss der Grundschule
Foto Privat, Frühsommer 1949, Jürgen Bahr: "Ich bin an dem weißen, gestrickten Stirnband zu erkennen. So ein Teil war damals „in“. Meine Großmutter hatte es mir gestrickt".

Klassenfahrt zum Abschluss der 10. Klasse
Foto, Privat, 1951, Jürgen Bahr: "Wohin, weiß ich nicht mehr. Es könnte durchaus auch Hiddensee gewesen sein. Es war eigentlich damals üblich, dorthin mit einem Dampfer von Stralsund aus zu fahren. Ich bin der 5. von links in der hinteren Reihe. Auf dem Foto ist nur noch ein weiterer Junge zu erkennen. Ich meine aber, wir waren insgesamt 4 Jungs in der Klasse, auf jeden Fall aber eine kleine Minderheit".

Hatten Sie Heimweh?

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Ich kann mich nicht erinnern, Heimweh gehabt zu haben. Wir waren so beschäftigt zu überleben.

Ab wann und wie ist Ihnen klar geworden, dass Sie nicht wieder in Ihren Heimatort zurückkehren werden?

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Kann ich tatsächlich nicht sagen. Es gab ja keine Zeitungen und als es dann doch Zeitungen gab, konnten wir uns kein Abonnement leisten. Wir waren also ziemlich uninformiert. Außerdem wussten wir, dass alle Verwandten auch nicht mehr dort lebten. Ich bin erst nach der Wende in Polen 1991 zum ersten Mal wieder in Landsberg, jetzt Gorzow, gewesen.

Was haben Sie gerne in der Freizeit gemacht?

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In der Mönchstr. lebten wir ja im Herbst-Winter 1945 - und Teile des Frühjahres 1946. Da waren wir im Wesentlichen mit „Überleben“ beschäftigt. Meine einzige Freizeitbeschäftigung war Lesen und da ich ja keine Bücher hatte, ging ich in die Stadtbücherei und holte mir dort welche. Später arbeitete ich dort als "Bücher-Junge". Wie kam es dazu? Das hat etwas damit zu tun, dass der dortige Bücherbestand direkt nach dem Krieg „bereinigt“ worden ist. Da ich natürlich bei meinen Bücherwünschen dort nach vertrauten Büchern (u. a. Karl-May-Bücher) fragte, wurde mir immer wieder gesagt „haben wir nicht mehr“. Daraus ergaben sich Gespräche mit der dortigen, sehr netten Bibliothekarin, die nach kurzer Zeit in der Aufforderung mündeten: „Du könntest mir helfen, die gewünschten Bücher aus den Regalen zu holen und die Rückgaben wieder einzusortieren. Dann brauche ich das nicht selbst zu machen“. Ich nahm das Angebot an und ging nach der Schule dorthin. Mein „Lohn“ bewegte sich im Miniatur-Bereich, wieviel genau, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich konnte umsonst lesen. Insbesondere das Wieder-Einsortieren war „spannend“. Das einzusortierende Buch selbst, aber auch sehr oft die Bücher rechts und links daneben. Wie oft ich gerufen wurde: „Jürgen, wo bleibst Du?“, kann ich nicht mehr sagen. In jeder Regalreihe, die bis fast unter die Decke gingen, stand eine rollbare Bockleiter, die beiden obersten Sprossen bildeten eine Art Sitzfläche, und so konnte ich - in Ruhe - insbesondere beim Einsortieren - lesen. 
Diese „Traum“-Kombination – kostenfreies Lesen und noch Geld dazu – hörte – leider – auf, als im Frühjahr 1946 die militärische Kontrolle der Kreuzung an der Greifswalder Chaussee beendet wurde und die besetzten Wohnungen wieder freigegeben wurden. Da Tischlermeister Genzmann die ehemalige Wohnung meiner Großmutter in der Bahnhofstr. 2 behielt, bekamen wir seine ehemalige Wohnung im 1. Stock der Greifswalder Chaussee 1a. Da sich dann ja auch noch mein Schulweg zusätzlich bis in die Knieper-Vorstadt verlängerte, konnte ich diese Arbeit in der Stadtbücherei nicht mehr machen. 
Von wann bis wann genau ich dort gearbeitet habe, weiß ich nicht mehr. 

Was haben Sie nach dem Schulabschluss gemacht? 

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Als ich die „Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung Stralsund“ im Juni 1951 abgeschlossen hatte, war ich nach 10 Jahren Schulbesuch Kriegs- und Nachkriegsbedingt statt 16 Jahre schon fast 18 Jahre alt. Während meiner letzten Schulmonaten hatte meine Mutter sich nach einer Lehrstelle für mich umgehört und sie schloss für mich einen Ausbildungsvertrag beim („volkseigenen“) Technischen Großhandel „Deutsche Handelszentrale Elektrotechnik und Feinmechanik-Optik – Anstalt des öffentlichen Rechts – Niederlassung Stralsund“ ab. Ende 1951 wurde das Geschäftsfeld „Elektrotechnik“ abgetrennt und in eine eigenständige DHZ umgewandelt. Ich blieb bei Feinmechanik und Optik. Durch meine Handelsschul-Ausbildung wurde meine Lehrzeit zum Großhandelskaufmann auf ein Jahr verkürzt. Sie begann – DDR-einheitlich - am 15.September 1951. Damit ich den Betrieb aber sofort kennen lernen konnte – und ich auch etwas Geld verdiente – wurde vereinbart, dass ich sofort als Lager-Hilfsarbeiter anfangen konnte. In dem später erstellten „Sozialversicherungs-Ausweis Nr. 1“ wird dann allerdings meine Arbeitszeit vom 1. Juli bis 14. September 1951 als „Lehrlings-Zeit“ bezeichnet. Da ich – wie ich mich noch gut erinnere - als Lehrling 50 Ostmark pro Monat erhielt, habe ich bis vom 15. September bis Ende Dezember 1951 insgesamt 175,00 Ostmark Lehrlings-Vergütung erhalten. Da aber in meinem Versicherungs-Ausweis für 1951 insgesamt 767,50 Ostmark als Brutto-Entgelt ausgewiesen sind, habe ich also in den 2 ½ Monaten Lagerhilfsarbeiter 592,50 Ostmark verdient (wohlgemerkt: brutto, wieviel das netto waren, weiß ich nicht mehr). Damals arbeitete man noch 48 Stunden pro Woche. Ich habe also in diesen 11 Wochen vor dem Beginn der Lehrzeit einen Brutto-Stundenlohn von 1,12 Ostmark erhalten.

Als ich Ende August 1952 meine 1-jährige Lehrausbildung beendet hatte – ich war gerade 19 geworden - und als ich nach einem kleinen Urlaub wieder zurück in die Firma kam, erwartungsvoll, welchen Job man mir anbieten würde und wie viel Geld ich nunmehr verdienen würde, da erlebte ich eine sehr unangenehme Überraschung: Die Personalleiterin, Frau H., und der Niederlassungs-Leiter, Herr K. , eröffneten mir mit strahlenden Gesichtern, dass es für die DHZ Stralsund eine große Ehre sei, mich der „Kasernierten Volkspolizei“, die in Stralsund gerade im Aufbau war, zur Verfügung zu stellen. Ich solle nach Hause gehen, meine Unterlagen holen und mich dann in einem bestimmten Hause am Neuen Markt in Stralsund melden. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich diesen Schlag in die Magengrube überstanden habe. Ich ging jedenfalls nicht nach Hause, sondern in die Poliklinik Stralsund, in der meine Mutter im Labor für die EKG-Film-Entwicklung arbeitete und erzählte ihr davon. Da sie für viele Ärzte des Hauses arbeitete, kannte sie auch einen, mit dem sie die Sache besprechen konnte. Der schrieb ihr ein ärztliches Gutachten über mich, in dem über meinen Hiluslymphknoten ausführlich berichtet wurde. Mit diesem gesundheitlichen Gutachten und den übrigen Unterlagen (Zeugnissen usw.) meldete ich mich dann bei der mir genannten Dienststelle der künftigen Kasernierten Volkspolizei. Man nahm die Unterlagen, stellte ein paar Fragen und teilte mir mit, dass ich Bescheid bekäme. Dieser kam bereits am nächsten Tag direkt in die Firma und war – wie von mir erhofft – ablehnend. Man könne mich nicht nehmen.
Daraufhin wurde ich in allen Ehren als Hilfssachbearbeiter in der DHZ weiter beschäftigt und wurde dann der KONSUM-Genossenschaft in Stralsund als Verkaufsstellen-Leiter eines Einzelhandelsgeschäftes  empfohlen. Das durch den KONSUM übernommene ehemalige Papierwaren-Geschäft Zillmann (der Inhaber war in den Westen geflohen) sollte zu einem Spezialgeschäft für Produkte der Feinmechanik und Optik ausgebaut werden. Dort sollten derartige Artikel (nur gegen Bezugsscheine) verkauft werden. Diesen Job trat ich dann am 19. Februar 1953 an. Dort kaufte ich mir im Sommer 1953 – natürlich mit Bezugsschein - die berühmte ERIKA-Koffer-Reiseschreibmaschine, die ich heute noch habe.

Welche Ereignisse aus der Zeit in Stralsund sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

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Meine „Beteiligung“ an der Beerdigung von Gerhart Hauptmann im Sommer 1946: Die Hausbewohner an der Einzugsstraße des Konvois der Fahrzeuge mit dem Sarg von Hauptmann nach Stralsund, die Greifswalder Chaussee, waren aufgefordert worden, die Straße sauber zu halten, so auch meine Mutter. Die russische Armee wickelte nämlich sehr viele ihrer kleinen Transporte mit Materialwagen ab, die von Panjepferden gezogen wurden, was natürlich auch an diesem Tag der Fall war. Wir zwei Kinder hatten nun den Auftrag, wenn sich ein Pferd in unserem Hausabschnitt „erleichterte“, dann eilten wir raus und fegten die „Äpfel“ auf: Prächtiger Dünger für die Beete im Hof und – wie man sieht – eine feste Erinnerung über 76 Jahre.

Als ich schon Verkaufsstellen-Leiter für das Konsum-Spezialgeschäft Feinmechanik und Optik in Stralsund war, begann in Ostberlin am 17. Juni 1953 der erste Aufstand gegen das DDR-Regime. Er wurde – wie bekannt – blutig niedergeschlagen. Ich bekam (vermutlich aufgrund der Vorkommnisses auf der Stralsunder Volkswerft) einen Telefonanruf aus der KONSUM-Zentrale und wurde angewiesen, die Rollos vor den Schaufenster-Scheiben herunterzulassen und alle wertvollen Gegenstände wie Schreibmaschinen, Fotoapparate, Optische Geräte usw.) aus den Auslagen zu entfernen. Noch Wochen danach konnte man mit der Bahn keine Fahrkarten für Strecken bekommen, die bis Berlin oder über Berlin gingen. Da ich aber meinen Sommer-Urlaub in Berlin bei Onkel Hermann Skorupke und seiner Familie verbringen wollte, hatte ich die Idee, mir nur eine Fahrkarte bis Eberswalde zu kaufen, das gerade neu erworbene Fahrrad mitzunehmen und die restliche Strecke damit zu fahren. Gedacht, getan: die an der Berliner Stadtgrenze patrollierenden Volkspolizisten interessierten sich nicht für mich und so fuhr ich gemütlich zunächst in den Ostsektor (ich meine, ich bin über Bernau reingefahren) und dann – was damals noch problemlos möglich war – weiter in den Westsektor. Ich verlebte einen schönen, sonnigen Urlaub.

Wann , Warum und unter welchen Umständen sind Sie aus Stralsund weggezogen?

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Ich hatte ja schon berichtet, dass ich 1953 nach dem Juni-Aufstand der Arbeiter mit „Trick 17“ es geschafft hatte, trotz Ticket-Verweigerungen nach und über Berlin dorthin und auch weiter in die Westsektoren zu kommen. Zwei von meinen dortigen Cousinen Skorupke standen gerade in Endphasen ihres Studiums und so wurde viel darüber gesprochen. Ich hatte ja noch die Verweigerung meines Oberschul-Besuches in Erinnerung („Wir sind ein Arbeiter- und Bauern-Staat – wir füttern keine Akademiker-Kinder“) und die Abgabe von Spezialartikeln der optischen und feinmechanischen Bereiche gegen Bezugsschein ist ja eigentlich kein „Verkaufen“. Kurz, ich begann über meine Interessen nachzudenken.

Wieso es 1954 – insbesondere nach Stalins Tod 1953 und den Veränderungen in der sowj. Führung – für einen 20-jährigen in der DDR möglich wurde, einen Interzonen-Ausweis für eine Reise ins westliche Ausland zu beantragen und auch zu bekommen, kann ich heute nicht mehr sagen. Beides gelang mir aber. Irgendwann, Ende 1953, muss ich mir eine Herzmuskel-Entzündung zugezogen haben. Ich entsinne mich, dass ich längere Zeit in dem großen, ehemaligen Marine-Lazarett in Stralsund gelegen habe, bis ich die Krankheit überwunden hatte. Tatsächlich habe ich daraufhin einen Behinderten-Ausweis erhalten. Darüber hinaus erhielt ich im April 1954 eine REHA-Kur bewilligt in Bad Liebenstein, in der Nähe von Eisenach gelegen. Da ich die günstige Gelegenheit nutzen wollte, beantragte ich vor der REHA - und erhielt ihn auch - einen Interzonen-Reisepass. Und so bin ich – nach Beendigung des Reha-Aufenthaltes in Bad Liebenstein (Thüringer Wald) - am 19. Mai 1954 nach Eisenach gefahren, besuchte noch die Wartburg, und bin dann in den Interzonen-Zug gestiegen und zunächst bis Fulda und dann – 2 Tage später - weiter bis nach Stuttgart zu meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, und ihrem Sohn Harro gefahren. Der Zug, der mich zunächst bis Fulda brachte, wo ich mit unserer ehemaligen Nachbarfamilie E. aus Landsberg verabredet war. Vater Kurt E. war bis Anfang Januar 1945 Chef-Buchhalter der Max-Bahr AG  Jutefabrik gewesen ( hat dann Volkssturm und russ. Gefangenschaft überlebt), sein Sohn – 11 Monate jünger als ich – war mein Schulkamerad in der „Knaben“- Volksschule Nr. II in der Brücken-Vorstadt und dann ab Sept. 1944 für etwa ¼-Jahr in der Oberschule gewesen - und unsere Familien hatten nebeneinander liegende Gärten hinter den Häusern gehabt. Zwei Tage später fuhr ich dann weiter bis Stuttgart zu Tante Thea, der älteren Schwester meiner Mutter, und deren Sohn Harro, der den Krieg zwar überlebt hatte, aber schwerverwundet zurückgekommen war. Nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft lebte wir einige Zeit zusammen in Stralsund. Als wir in Stuttgart bei irgendeiner Behörde für mich etwas wollten, wurde mir bedeutet, ich sei Bürger der DDR und hier in der Westzone nur Gast. Wenn ich also hier bleiben wolle, müsse ich nach Gießen fahren. Dort sei die Notaufnahme-Behörde stationiert und dort müsse ich mich melden. So fuhr ich Ende Mai oder Anfang Juni 1954 dorthin, meldete mich, wurde am 2. Juni 1954 ärztlich untersucht und dann zu meinem Anliegen vernommen. Ich erhielt am 9. Juni 1954 als „alleinreisender jugendlicher Antragsteller im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens die Aufenthalts-Erlaubnis“. Ich hatte Baden-Württemberg als Wunsch-Aufenthalts-Bundesland angegeben und erhielt deshalb eine Fahrkarte von Gießen nach Bad Antogast im Schwarzwald (Nähe Offenburg am Rhein). In dem kleinen Ort befand sich in einem ehemaligen Hotel eine Sammelstätte der nach Baden-Württemberg eingewiesenen jugendlichen Flüchtlinge. Da ich im Juni 1954 in der Bundesrepublik noch ein Minderjähriger war, wurde offensichtlich in Bad Antogast für mich geklärt, in welches Heim ich eingewiesen werden konnte. Es war ein erstaunlich warmer Juni 1954 und wir wurden bei den Bergbauern zur Mithilfe bei der Heuernte eingesetzt. Arbeiten macht durstig und die Bauern gaben uns Apfelmost, den ich reichlich trank. Was ich bis dato nicht wusste, war, dass Most im Schwarzwald Alkohol enthält. Wie ich wieder zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Die Mitbewohner erzählten mir später kaum glaubliche Geschichten.
 


Während unseres Aufenthaltes wurde dort wohl verwaltungsintern geklärt, wo die einzelnen Jugendlichen untergebracht werden sollten. Für mich fand man einen Platz im Jugendsozialwerk Tübingen und ich erhielt am 27. oder 28. Juni 1954 eine Fahrkarte über Karlsruhe und Stuttgart nach Tübingen. Da ich ja wusste, dass man die Bahnfahrt einmal unterbrechen konnte, stieg ich in Stuttgart aus, fuhr nach Zuffenhausen zu Tante Thea und Vetter Harro und blieb 2 Tage dort. Dann fuhr ich ganz gemütlich weiter nach Tübingen und wurde dort von dem stellvertretenden Heimleiter (vermutlich ein ehemaliger Berufsoffizier) sehr ungemütlich empfangen mit den Vorwürfen, wo ich denn abgeblieben sei, man hätte mich schon vor 2 Tagen erwartet. Er glaubte meinen Erläuterungen nicht und meinem Behinderten-Ausweis schon mal gleich gar nicht. Er vermutete, dass ich, der ich sogar mit meiner ERIKA-Koffer-Schreibmaschine angereist war und einen Behinderten-Ausweis der DDR vorlegte, ein Spitzel oder Agent der ostdeutschen FDJ sei. Jedenfalls ignorierte er den Behinderten-Ausweis und schickte mich zum Arbeiten - dort gab es statt Most Wasser und abends konnte ich nur noch todmüde ins Bett fallen. Diese erste Arbeit „Brunnenbau für die Preussag in der Umgebung von Tübingen“ war relativ bald erledigt. Dann hatte er mich aber als „Werkstudent“ bei Mercedes in deren Werk in Sindelfingen angemeldet. (Im Schwäbischen sagt man aber lieber „beim Daimler“ statt Mercedes). Die Firma engagierte immer in den Semesterferien Studenten der Uni. Tübingen für Hilfsarbeiten im Werk und stellte dafür auch Busse zur Verfügung, die die Studenten morgens zur Frühschicht um 6:00 Uhr bzw. mittags zur Spätschicht um 14:00 am Bahnhof in Tübingen abholten und auch wieder zurückbrachten. Für die Frühschicht bedeutete das um 4:00 Uhr aufstehen, denn der Bus brauchte damals eine knappe Stunde, um von Tübingen nach Sindelfingen zu kommen. Neidvoll hörten meine Heimkollegen, zumeist Lehrlinge oder junge Gesellen, die in Tübingen arbeiteten, dass ich damals brutto 1,02 DM/Stunde bekam. 

Während dieser Zeit kam der Heimleiter aus seinem Urlaub zurück: Dr. Otto Wilhelm von Vacano. Er wurde natürlich über den merkwürdigen Neuzugang Jürgen Bahr mit „DDR-Behinderten-Ausweis“ und Koffer-Reiseschreibmaschine „ERIKA“ informiert, der – obwohl minderjährig – allein legal – also mit Interzonenpass – in die Bundesrepublik eingereist war und mit 2-tägiger Verspätung – angeblich Verwandtenbesuch – hier eingetroffen war. Natürlich wurde ich dann von Dr. v. Vacano befragt und ich erzählte ihm, dass ich in der DDR nicht zur Oberschule gehen durfte, weil ich eben kein „Arbeiter- und Bauernkind“ sondern ein Akademiker-Kind gewesen sei. Ich wäre hier geblieben, weil ich eben versuchen wollte, hier mein Abitur nachzumachen, um noch studieren zu können. Während ich also im wöchentlichen Wechsel, wohlgemerkt auch noch den vollen Samstag, beim „Daimler“ arbeitete, hat Dr. v. Vacano seine offensichtlich guten Kontakte zum Regierungs-Präsidium Tübingen-Hohenzollern genutzt, um dort über einen Oberschulbesuch für mich zu recherchieren. Ich hatte meine Zeugnisse aus der Stralsunder Schulzeit mitgebracht hatte, in denen bei Fremdsprachen von Englisch, Latein und Anfängerkursen in Russisch die Rede war.  In der französischen Besatzungs-Zone, zu der eben auch weite Teile des jetzigen Landes Baden-Württemberg gehörten, war aber Französisch die erste Fremdsprache. Wie Dr. v. Vacano es hinbekommen hat, dass ich an der Wirtschaftsoberschule im benachbarten Reutlingen Latein statt Französisch als erste Fremdsprache nehmen durfte, hat er mir nie erzählt, auch Oberstudiendirektor Dr. M. , der Leiter der Wirtschaftsoberschule, später auch nicht. Mir wurde lediglich im September 1954 mitgeteilt – ich arbeitete zwischenzeitlich schon nicht mehr in Sindelfingen, sondern in Tübingen bei einer Gipser-Firma – dass ich nach den Herbst-Schulferien in Reutlingen in der dortigen Wirtschafts-Oberschule angemeldet sei. 

In der Zeit nach meiner Ankunft im Jugendsozialwerk war ich nicht untätig geblieben: 
Mir war bewusst geworden, dass man in Stralsund in meiner Firma bemerkt haben muss, dass ich nicht von der REHA in Bad Liebenstein zurückgekommen bin, und dass man das wahrscheinlich den zuständigen Stellen gemeldet hat oder noch melden würde. Also setzte ich mich hin und schrieb an meine Mutter einen Entschuldigungs-Brief, dass ich sie nicht über meine Absicht informiert habe, dass ich in der Bundesrepublik bleiben würde, um hier zu versuchen, mein Abitur nachzumachen, um noch studieren zu können. Tatsächlich hat meine Mutter später nie etwas darüber erzählt, dass sie in Stralsund im Ärztehaus wegen ihrer Westkontakte mit nahen Verwandten in Bedrängnis gekommen sei.


Ich hatte auch meinen Onkel Peter Bahr angeschrieben, dass ich jetzt auch in der Bundesrepublik sei. (zur Erinnerung: wir hatten ihn 1948/49 noch in Magdeburg besucht, als er dort versuchte, die Max-Bahr-Sackfabrik im Magdeburger Industrie-Hafen zu erhalten). Weiterhin erinnerte ich mich daran, dass mein Vater aus seiner Studienzeit in München einen Bundesbruder als Freund gewonnen hatte und dass er ihn gebeten hatte, als ich 1933 geboren wurde, mein Patenonkel zu werden. Ich wusste nur aus Erzählungen meiner Mutter, dass er in Landau / Pfalz als Rechtsanwalt und Notar gelebt und gearbeitet hat. Also schrieb ich an ihn – ohne weitere Adresse !! - und der Brief wurde zugestellt. Die Zusteller waren damals noch informierte Postmitarbeiter!! Er schrieb zurück, dass er meine Nachricht an einen weiteren Verwandten von mir, Dr. phil. Konrad Bahr, in Augsburg, (geb. 1888) weitergegeben hätte. So kam ich in Kontakt mit Onkel Konrad – eigentlich Großonkel und ein Vetter meines Großvaters Paul Bahr - . Ich erzählte ihm natürlich, dass ich in Reutlingen nach den Herbstferien zur Wirtschaftsoberschule gehen würde, um zu versuchen, mein Abitur nachzuholen. Er lud mich ein, in dieser Ferienzeit nach Augsburg zu kommen, damit wir uns kennenlernen könnten. Natürlich habe ich ihm erzählt von der besonderen Zulassung einer Ersatz-Regelung im Sprachenbereich für mich: Latein statt Französisch. Er bot mir an, mir in den Ferien bei Latein zu helfen. Es sollte sich aber zeigen, dass ich die Hilfe in zwei ganz anderen Fächern benötigen würde - bei Mathematik und bei Physik. Hier brauchte ich enormen Nachhilfe-Unterricht. Erfreulicherweise fanden sich zwei Tübinger Studenten bereit, die mir nachmittags im Jugendsozialwerk halfen, diese Lücken langsam zu verkleinern. Die Kosten übernahm Onkel Konrad. Und ich erhielt 5 x die Woche, immer zu der Zeit, wenn meine Klassenkameraden in der Schule ihre Französisch-Stunden hatten, Unterricht durch einen Oberstudiendirektor im Ruhestand, der sich bereit erklärt hatte, mir bei sich zuhause Latein-Unterricht zu geben. Durch das „pauken“ bestand ich im März 1957 das Abitur. Ich war und blieb auch in in meiner Klasse an der Wirtschaftsoberschule ein Außenseiter, ein gutes Stück hatte meine „Fahrschüler-Situation“ damit zu tun, andererseits war ich bis zu 6 Jahren älter als meine Klassenkameraden, der einzige Flüchtling, noch dazu aus der Sowj. Besatzungszone, hatte eine Berufsausbildung und bereits verantwortlich gearbeitet, aber jetzt lebte ich allein in einer Sozialen Einrichtung ohne Eltern. Außerdem sprach ich ein zu klares Nord-Hochdeutsch.

Und was taten Ihre restlichen Familienmitglieder?

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Mein Bruder Eberhard war nach seinem Grund-Schulabschluss in Schwerin / Mecklenburg im dortigen Lehrlingskombinat der  Deutschen Post zum Fernmeldetechniker ausgebildet worden. Er wurde dann in Wolgast bei der Ausrüstung der internen Kommunikation für sowjetische Reparationsschiffe eingesetzt. Infolge nicht ausreichend beigestelltem Einbaumaterial „bediente“ er sich aus dem davorliegenden, fertigen und von Sowjetsoldaten bewachtem Schiff mit diesen Teilen, fürchtete letztendlich aber der „Sabotage“ bezichtigt zu werden und setzte sich Ende Januar/Anfang Februar 1955 direkt von Wolgast über Westberlin in die Bundesrepublik ab. Sein Kollege wurde in der Tat wegen „Sabotage“ einige Tage später zu Hause in Rostock verhaftet. Mein Bruder war direkt von Lubmin bei Greifswald nach Westberlin gefahren und, nach ausführlichen Befragungen in der dortigen Flüchtlings-Aufnahmestelle (einschließlich verschiedener, sehr interessierter westlicher Geheimdienste, als der Grund für seine Flucht bekannt wurde) in die Bundesrepublik ausgeflogen worden. Er hatte aufgrund seiner Fluchtgründe den Flüchtlings-Status „C“ – d. h. „Gefahr für Leib und Leben“ – bekommen, hatte ebenfalls Baden-Württemberg als Einweisungsland genannt und war – da er ja 1955 erst 19 Jahre alt und damit noch „minderjährig“ war, auch in ein Heim des Jugendsozialwerkes e. V., aber in Stuttgart, eingewiesen worden. Seine Fluchtgründe sind eine – sehr bizarre - Geschichte für sich.Er wohnte dann aber sehr bald allein zur Miete in Stuttgart-Kaltental und ich durfte bei ihm wohnen.

Unsere Mutter, die inzwischen in Stralsund allein war, haben wir dann ermuntert, auch in die Bundesrepublik nachzukommen. Das passierte dann im Sommer 1958. Da war ich schon Student der Volkswirtschaft in München. Sie wohnte zunächst allein in der 4-Zimmer-Wohnung in der Greifswalder Chaussee 1a. Allein insofern: 1950 war unsere Großmutter gestorben. Sie wurde auf dem Frankenfriedhof beigesetzt. Mein Vetter Harro, der ja aus amerikanischer Gefangenschaft nach Stralsund zurückgekommen war, hatte gehofft, als ehemaliger Lehrling und Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn in Stralsund - bis zu seiner Einberufung in die Wehrmacht - hier wieder angestellt zu werden. Das zerschlug sich, weil er wegen seiner Kriegsverletzung (ein Lungenflügel war außer Funktion) und der dadurch nur sehr bedingten Einsatz-Möglichkeiten bei der Bahn keine Anstellung bekam. Er ging also wieder zurück in die Westzone und bekam in Stuttgart einen Bürojob. Seine Mutter, meine Tante Thea, folgte ihm nach der Beerdigung der Mutter. Und ich und mein Bruder hatten ja auch Stralsund verlassen. Meine Mutter vermietete einen Teil der Wohnung an das Ehepaar K., der in der neuen Volkswerft im technischen Bereich arbeitete. 

Da unsere Mutter nun seit über 2 Jahren allein in Stralsund wohnte und unsere Verdienste und Mietbeteiligungen dort ausgefallen waren, hatten wir begonnen, sie von hier aus zu unterstützen. Da man damals kein Geld via Banküberweisung in die DDR schicken konnte, war uns die Idee gekommen, ihr DDR-Geld, das man hier in Westdeutschland ganz legal bei einer Bank kaufen konnte (Kurs war ziemlich gleichbleibend 1 zu 4, d.h. für eine Westmark bekam man 4 DDR-Mark) nach Stralsund zu schicken. Aber wie??? 
Ich weiß nicht mehr, woher wir den Tipp bekamen, jeden Geldschein so fein zusammen zu rollen, dass er in den Hohlraum eines Wellpappenkartons hineingeschoben werden konnte. Das klappte prima. Die Füllung eines solchen Kartons mit erlaubten Inhalten für die Mutter war auch nicht das Problem. Aber wie sagen wir ihr, dass in den Wellpappen-Röhren noch eine „Zugabe“ enthalten sei???? Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe: eine DIN-A-4 große Schablone aus Pappe so mit kleinen Öffnungen zu versehen, die genau auf eine Schreibpapierseite mit einer Linie passten. In diese Löcher schreibt man dann in Einzelworten den Text, der zum Finden der „Zugabe“ führen soll. Wenn man dann die Schablone entfernt, muss man eben „nur“ noch die Zwischenräume mit Text auffüllen. Eine Kopie dieser Schablone hatten wir anfangs als zusätzlichen „Boden“ in ein Paket gelegt. Der schwierigste Teil war dann die Arbeit, die Texte dazwischen vernünftig zu schreiben. Ich weiß, wir haben das irgendwann sehr vereinfacht. Aber als wir Mutter 1958 dann auch „rübergeholt“ haben und sie für einige Zeit bei Eberhard in Stuttgart-Kaltental wohnte (ich studierte damals schon in München) , bis er 1959 seine erste Wohnung in Stuttgart-Vaihingen bekam, da erzählte sie uns, wie „nassgeschwitzt“ sie regelmäßig gewesen sei, wenn sie einen 100 oder 50 DDR-Mark-Schein drüben zum Bezahlen übergab.

https://stadtbibliothek.stralsund.de/100-Jahre-Stadtbibliothek/kurzchronik/

Stadtbibliothek Stralsund, Foto Privat, 2023

Foto Privat, 1953

Dienstausweis als Verkaufsstellenleiter

Erika Reiseschreibmaschine
Noch heute im Gebrauch bei Herrn Bahr

Jürgen Bahr, Foto Privat, 1953

Leseempfehlungen

Erste Tage im Mai '45. Das Kriegsende für Greifswald, Stralsund und Rügen. Der von dem Autor Wolfgang Buchhester stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2015, S. 30 - 37

Weiße Fahne über Stralsund - kampflos über'n Rügendamm. Erinnerungen an den 30. April und 1. März 1945.  Der von dem Autor Lothar Lentz stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2011, S. 69 - 70

Achim Schade & Matthias Redieck (Hg.) Stralsund Ende des Krieges - Zeit des Werdens 1945 - 1946, Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Mai 2015 u.a. mit Beiträgen von Hans-Joachim Hacker und diversen anderen Autorinnen und Autoren und Auszügen aus den Tagesberichten des Bürgermeisters Otto Kortüm, dem Tagebuch des Dr. med.  Paul Eichholz des Jahres 1945 und des Journalisten Walter Radüge.

Achim Schade & Matthias Redieck (Hg.) Walter Radüge, Ein Tagebuch 1. November 1946 bis 31. August 1949, Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Juni 2016

Die Drahtseilbahn der Zuckerfabrik in Stralsund. Ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte unserer Region. Der von dem Autor Reinhold Prehn stammende Artikel befindet sich in den Stralsunder Heften für Geschichte, Kultur und Alltag 2010, S. 51 - 55

Betrachtungen zu Standort und Gestalt einiger Schulbauten Stralsunds. Der von dem Autor Klaus Haese stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2011, S. 81 - 83

Lang ist es her. Meine Schulzeit in Stralsund nach dem Zweiten Weltkrieg. Der von dem Autor Ludger Bolwin, Klein-Winternheim, stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2016, S. 80 - 84

Schilderungen der Zahnärztin SR Dr. Käthe von Wedelstädt über die Ereignisse auf der Stralsunder Volkswerft am 17./18. Juni 1953 hier auf der Homepage unter der Rubrik "Stralsund erinnert sich!" mit weiterführenden Leseempfehlungen

SR Dr. Käthe von Wedelstädt erinnert sich an das Studium der Zahnmedizin an der Universität Greifswald (1947 - 1951), ihre anschließende Beschäftigung als Zahnärztin in der Betriebspoliklinik der Stralsunder Volkswerft und die Ereignisse am 16./17. Juni 1953 in Berlin und Stralsund 

 SR Dr. Käthe von Wedelstädt  

(1951, Betriebspoliklinik der Volkswerft, Franzenshöhe)
 

Frau Dr. von Wedelstädt wurde am 26. April 1918 in Stralsund geboren. Nachdem ihr Ehemann in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges gefallen war, musste sie sich als junge Mutter von 2 Kindern neu orientieren. Sie studierte mit Unterstützung der Eltern von 1946 bis 1950 an der Universität Greifswald Zahnmedizin. Ihre erste Arbeitsstelle war die Betriebspoliklinik der Stralsunder Volkswerft. Dort war sie bis 1955 beschäftigt und arbeitete danach bis 1978 als Zahnärztin in Zingst. Sie verstarb am 7. März 2022.

Das Interview mit ihr wurde von der Historikerin und Journalistin Dr. Heike Bretschneider im Juli 1955 als Zuarbeit für eine Sendung des WDR  geführt. Die Audiodatei und die Informationen über die Lebensdaten wurden dem Geschichtsverein freundlicherweise von Herrn Friedrich Wilhelm v. Wedelstädt zur Verwendung auf unserer Homepage zur Verfügung gestellt. Wir danken ihm und Frau Dr. Bretscheider, der wir den Hinweis auf die Existenz des Interviews verdanken. 

Studium 

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 Studium der Zahnmedizin 1947 bis 1951 an der Universität Greifswald 

In der Betriebspoliklinik der Volkswerft 

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Bewerbung für eine Tätigkeit in der Betriebspoliklinik der Volkswerft  und Schilderung der damaligen Arbeitsbedingungen 

Bespitzelung

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17. Juni 1953 - Vorgeschichte

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Erlebnisse anlässlich eines Berlin Besuchs am 16. Juni 1953 

17. Juni 1953 - Ereignisse in Stralsund

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17. Juni 1953 - Nachspiel

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Leseempfehlungen 

Zitat aus Klaus Schwabe: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, Friedrich Ebert Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern, Reihe Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern, Nr. 4

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Klaus Schwabe: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, Friedrich Ebert Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern, Reihe Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern 

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Beatrice Vierneisel, Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, Begleitheft zur Ausstellung, Hrgs: Die Landesbeauftragte für MV für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 2. Aufl. Schwerin 2009

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Auszug aus Dokument 4, Ministerium für Staatssicherheit , Bezirksverwaltung Rostock - Leitung - Rostock, den 18. Juni 1953. Das Dokument ist auf Seite 12 der Publikation des Begleitheftes abgedruckt. 

Der Stralsunder Maler und Grafiker Eckhard Buchholz erinnert sich an die Ausbombung in Stettin, seine Kindheit und Jugend in Stralsund, an die Band "The Hurricans", an sein Arbeitsleben auf der Volkswerft, die Begegnung mit seinem späteren Lehrmeister, dem Stralsunder Maler Prof. Tom Beyer, sein künstlerisches Schaffen während der Werftzeit und die Hinwendung zur Historienmalerei ab 1998 

Geboren am 14. März 1941 in Stettin, floh Eckhard Buchholz 1944 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach einer Ausbombung der elterlichen Wohnung in Stettin in die Dienstwohnung seines Vaters in der Franz-Wessel-Straße 10 in Stralsund. Sein Vater war als Offizier der Wehrmacht im Dezember 1942 in Rschew, 180 Kilometer vor Moskau, gefallen. Infolge des Luftangriffs am 6. Oktober 1944 erlebte die Familie erneut das Trauma einer Ausbombung und fand danach Unterschlupf in einer Wohnung in der Straße "Andershofer Ufer". Von 1947 bis 1955 besuchte er die Schule, erlernte anschließend den Beruf eines Kraftfahrzeugschlossers und arbeitete ab 1959 auf der Stralsunder Volkswerft als Motorenschlosser bis zur Vollendung des 58. Lebensjahres im Jahre 1999. Als Autodidakt entstanden ab 1962 erste Arbeiten des Maler und Grafikers. Entdeckt vom Stralsunder Maler Prof. Tom Beyer, war er dessen Schüler von 1976 bis 1979. Danach studierte er bis 1981 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald Kunstgeschichte und absolvierte - alles neben seiner Tätigkeit als Motorenschlosser auf der Werft ein einjähriges Fernstudium an der  "Kunsthochschule Berlin Weißensee". Zahlreiche seiner damaligen Werke wurden auf der Volkswerft ausgestellt und schmückten die Räumlichkeiten der Werft, so manches Bild wurde auch als Geschenk anlässlich der Übergabe eines Schiffes an den sowjetischen Kapitän angefertigt. Ab 1991 Mitglied im pommerschen Künstlerbund , zu dessen 2. Vorsitzender er 1992 gewählt wurde, wandte sich der Künstler ab 1998  der Historienmalerei zu und setzte bis 2020 zahlreiche historische Ereignisse wie die Christianisierung Pommerns durch Bischof Otto von Bamberg 1128, den Besuch des Reformators Johannes Bugenhagen in Stralsund im Mai 1535 oder die Belagerung Stralsunds durch Wallensteins Truppen 1628 in Szene. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland u.a. des von ihm geschaffenen Wikinger-Zyklus machten Eckhard Buchholz weithin bekannt.  Mehr über den Menschen und den Künstler Eckhard Buchholz und sein umfangreiches Werk erfahren Sie in aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Pommern (Zeitschrift für Kultur und Geschichte) 61. Jahrgang, Heft 1/2023, auf den Seiten 41 - 45 "Vom lauten zum leisen Kunstschaffen des Historienmalers Eckhard Buchholz in Stralsund" von Eckhardt Wendt mit einer Schlussbetrachtung von PD Dr. Gerd-Helge Vogel und auf seiner Homepage.

Erste Ausschnitte aus dem am 11. Mai 2023 von Herrn Freiherr von Houwald mit Herrn Eckhard Buchholz geführten Interviews (wird fortgesetzt)

Flucht nach Stralsund im Jahr 1944 und der Bombenangriff am 6. Oktober 1944 

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Ich bin am 14. März 1941 in Stettin geboren. Wir sind in Stettin ausgebombt worden, da war ich drei Jahre alt und wir sind nach Stralsund gezogen. Ich kann mich nur an Sachen erzählen, die Mutter von Stettin erzählt hat. Wir waren dann kurz bei Verwandten in Stettin untergebracht und haben mit der Flüchtlingswelle Stettin in Richtung Usedom verlassen. In Heringsdorf waren Verwandte, wo wir kurz geblieben sind, um dann weiter nach Stralsund zu reisen. In Stralsund hatte mein Vater eine Dienstwohnung als Offizier in der Franz-Wessel Straße 10. Dort konnten wir erst einmal wohnen, bis eine Bombe auch dieses Haus im Oktober 1944 zerstörte. Da kamen die Ami’s und um dreiviertelzwölf sagte Mutter, ich weiß noch, es war Essen auf dem Tisch, jetzt müssen wir in den Keller. So, und dann sind wir in den Keller gegangen und paar Minuten später explodierte oberhalb eine Bombe, und die Mutter sagte, ich flog von ihrem Schoß runter im Keller. Durch Mörtel und Staub, sie konnte mich nicht mehr sehen. 10 Minuten später kamen denn Soldaten mit nem Vorschlaghammer und haben die Wand eingeschlagen, dass wir rauskamen. Ja so ist das gewesen. Wir wohnten nachher durch Bekannte in der Straße Andershofer Ufer, das war ne Siedlung, wo damals die Offiziere wohnten und die waren ja zum Teil im Krieg geblieben und weg, und da haben wir eine Wohnung gekriegt. Und da wohnten wir lange, bis ich dann nachher geheiratet habe und dann sind wir weggezogen.

Haben Sie habe sie sonst noch Erinnerungen an diese frühe Zeit in Stralsund, z.B. als die Russen dann Stralsund eingenommen hatten? 

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Ja, ich weiß noch oben in Andershof wo wir wohnten, der Opa ging aufs Dach, und sagte, rief runter: „Die Russen kommen“. Und dann kamen die Russen. Und auf dem Dänholm waren noch deutsche Soldaten, die schossen denn immer wieder rüber noch. Und neben unserem Haus stand ne Stalinorgel, die schoss dann da wieder rüber. Das weiß ich noch alles. Und dann kann ich mich auch noch daran erinnern, es saßen drei Russen auf der Treppe draußen, und Opa ging hin und holte ne Flasche Korn war das, was weißes, und goß denen ein, die haben sich sehr gefreut., dass sie nen Schluck abkriegten. Es gab auch sehr gute Russen dabei. Ich weiß noch, sie brachten uns einen großen Käse als Dankeschön, so und dann kam nachher paar Tage später andere Russen, die räuberten das dann wieder weg. Wenn Mutter nun schlau gewesen wäre, kleine Scheiben und irgendwo versteckt. Ja so war dat gewesen, es gab gute Russen und schlechte. Und ein Russe, den mussten wir einquartieren, Michel hieß der, und draußen war Theater gewesen, ham se geschossen und so weiter, die wollten auch mit Frauen irgendwie, „Frau 5 Minut“ und so weiter und so fort, und der schoß denn, der Michel, in die Luft und denn sind die anderen abgehauen. Es gab auch gute dabei, da kann man nichts zu sagen. Das sind so Erinnerungen. 

Wo sind Sie zur Schule gegangen? Mit wieviel Mitschülern waren sie in einer Klasse?

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Zur Schule bin ich oben in Andershof im Gutshaus gegangen. Die ersten Klassen und dann nachher zur Stadt – 5 km zur Stadt gelaufen. In die Fritz-Reuter-Schule (Anmerkung v.H: ehemalige Frankenvorstadtschule, heute Jona Schule). Und da hatte ich auch Schuhe vom Vater angehabt, die mal größer waren und damit dann los gelatscht, wie das damals so gewesen ist. War aber ne ganz schöne Tour, 5 km hin, 5 km zurück. In den ersten Jahren waren in der Klasse 35, 36 Kinder. Und das war in einer großen Halle gewesen, die ersten saßen auf Bänke und die restlichen, die saßen alle auf der Erde, so war dat gewesen. 

Wie war die Versorgungslage, haben ihre Eltern beide gearbeitet? 

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Ne, Vater ist ja im Krieg gefallen. Meine Mutter musste uns beide versorgen, meinen Bruder und mich. 
Das ist bestimmt ne schwere Zeit gewesen? – ja natürlich. Haben Sie das auch so gemerkt als Kind?
Nein, nein, als Kind gar nicht. Aber wenn ich jetzt überlege, was man hat, man hat ne Waschmaschine, man hat ne Spülmaschine, das geht alles automatisch, früher war Mutter in der Waschküche für die ganze Siedlung, da gabs dann auch nen Zettel, wo dran steht, wer dran ist, und dann alles per Hand gemacht, das habe ich dann auch beobachtet. Und interessant war dann auch, es war dann auch ein Kindertreffen, die Frauen haben denn auch einen Kuchen gebacken und dann wurde auch was vorgetragen, Gedicht oder Lieder gesungen und das war einmal im Jahr gewesen. Selbstverständlich haben wir auch versucht, Lebensmittel zu bekommen. Da bin ich meinem Bruder los, die Bauern kontrollierten ja auch mit Hund ringsrum um die Felder, und wir mitten ins Feld rein , denn haben wir – was war das – Weizen genommen, rumgebogen, abgeschnitten und ins Hemd gesteckt -  mit solchen Bäuchen kamen wir dann nach Hause. Aber man durfte sich nicht erwischen lassen, klar, wir sind auch Kartoffeln stoppeln gegangen, wenn das Feld abgeerntet wurde, haben wir zusätzlich noch ein paar rausgeholt und so weiter. Das war nicht einfach für viele Mütter, die alleinstehend waren, mit Kindern und mussten sich so durchkämpfen. 

Gibt es sonst noch etwas, woran sie sich erinnern an ihre Schulzeit? Was haben Sie in ihrer Freizeit gemacht, nach der Schule?

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Na ja,  wir haben uns auch damals ein bisschen geboxt, geschupsts und Beinhacker gestellt, aber wenn ich das heute so erlebe, dat die schon mit Messern durch die Gegend rennen, dat kann nicht wahr sein. Nach der Schule flog die Schulmappe erst einmal in die Ecke, draußen tobten schon welche mit dem Ball, so dann hat man da mitgemacht, ist logisch. Also Stubenarrest habe ich nicht gekriegt – nie. Aber raus, toben und so weiter und so fort. Im Winter nachher, in Andershof ist ein Teich, da sind wir dann mit Schlittschuhen rauf. Im Sommer haben wir gebadet im Teich und wunderbar. Ich konnte nicht Schwimmen, ich wurde einfach reingestoßen, aber da waren ältere Jungens, die haben aufgepasst. Und so habe ich durch „Hundepaddeln“ dat Schwimmen erst mal gelernt – die anderen haben ja aufgepasst.

Und dann die Lehre....

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1956 habe ich dann die Schule beendet und habe eine Lehre angefangen, 3 Jahre in Stralsund als Kfz-Schlosser aufm IFA-Dienst (Industrieverband Fahrzeugbau). Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Kfz-Schlosser zu lernen? Mein Vater war früher auch bei der motorisierten Einheit gewesen. Und ich hab auch Pokale von ihm gesehen, wo er Renne gewonnen hatte und so weiter. Und dann interessierten mich die Motoren, das war für mich das Beste. Und dann haste ein Motorrad repariert und hast ne Probefahrt gemacht, das war ganz wat besonderes gewesen - mit 16 Jahren, das muss man sich überlegen. Und da hatte ich dann in Garz meinen Führerschein gemacht, der Fahrschullehrer wusste aber, dass ich aus Stralsund kam. Da sagte er, Herr Buchholz, aber nur 100 m vor meiner Werkstatt, schieben, schieben nachher….Warum sind Sie nach Garz ausgewichen, haben dort ihren Führerschein gemacht? Da war nen guter Fahrschullehrer. Als 16jähriger konnte ich denn Motorrad fahren. Wie viele Lehrlinge haben mit Ihnen zusammen die Ausbildung gemacht, hat Ihnen die Ausbildung Spass gemacht? Das waren ungefähr so 6 bis 8. Ja  - an Motoren arbeiten und laufen lassen, ja dat war wunderbar, dat war nen Herzgefühl. Da haben Sie noch zu Hause gewohnt? Ja, ja natürlich.

Die Lehre war 1959 beendet, und da stellt sich die Frage, wie geht’s weiter? Was hatten Sie vor?

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Ich traf einen ehemaligen Schulkollegen und wir sprachen so was man so verdient und der sagte mir, Menschenskinder, komm zur Werft, da verdienst du dat zweifache. Motoren, die sind zwar größer, aber da verdienst du mehr. Ich war da jung verheiratet, mit meiner ersten Frau, wollte für die Familie jetzt auch sorgen, so war es gewesen, und denn bis zum Schluss hab ich da durchgehalten. Wo haben Sie zusammen mit ihrer Frau gewohnt?  Bei meiner Mutter. Gab es keine andere Möglichkeit, eine Wohnung zu bekommen? War schwierig gewesen, ja. Und dann hab ich später am August-Bebel-Ufer ausgebaut, oben und dann haben wir da gewohnt - 2 ½ Zimmer.  

Wo haben Sie auf der Werft angefangen?

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Auf der Reparaturwerft. Wir mussten dann morgens immer rüber, zur Hauptwerft. Wir hatten dann aber auch auf der Reparaturwerft Fischerboote von Sassnitz, die Kutter. Und die haben wir dann auf der Reparaturwerft repariert. Und das war auch interessant gewesen: der nächste Kutter der kam, weil es ja Fischer waren: „Bring mal ein Fass Aale mit“, so ging das dann aber auch. Und dann haben wir uns die Aale aufgeteilt. Das waren ja nur kleine Motoren gewesen, die hat man dann fix fertig gekriegt. Sonst haben wir DMR-Motoren repariert. Das waren Riesendinger., die Hauptmaschine war, glaube ich, 8, 9 Meter lang und dann vier Generatoren, die dann auch gemacht werden mussten. Frauen waren in der Brigade gar nicht beschäftigt. Auf der Reparaturwerft waren nur im Motorenbau waren so 10 bis 12 Männer beschäftigt. 
Ein eingeschworenes Team? Ja. Jaaa

Die Band "The Hurricans".....

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Was machte man, was haben Sie in der Freizeit gemacht? Man hat sich auch mal mit Kollegen getroffen. Geklönt und dann gab es noch ein Bierchen dazu und fertig ist die Laube. Und nachher hab ich Musik gemacht. Gruppe Hurricanes. Und da waren wir auch viel unterwegs gewesen. Da haben wir in Greifswald gespielt, in Rostock. Im Sommer hatten wir nen Vertrag auf Hiddensee gehabt, in Kloster. Und dann haben wir in Kloster Freitag, Sonnabend und Sonntags gespielt. Und dann Montags mit ersten Dampfer los, ich hatte ja nur das Glück gehabt, mein Chef auf der Werft sagte, brauchst zwei Stunden später erst kommen. Weil man ja abgespannt war, und dann morgens, das lief alles. Wie hat sich die Band zusammen gefunden, haben Sie schon immer Musik gemacht? Wann war der erste Auftritt? Als Jugendlicher, war ich im Intourist, da waren drei Musiker, und der Gitarrist hat mir so gut gefallen, mit Verstärker damals, mit Echo und so weiter – dann habe ich mir das angeguckt, hab mit dem denn gesprochen, dann habe ich mir ne Gitarre gekauft und hab dreimal bei ihm gesessen und wir ham geübt. Und dann habe ich mir nachher ein Buch gekauft – Gitarrenlehre und dann habe ich mir das alles selbst beigebracht. Wann wir den ersten Auftritt hatten, das weiß ich nicht mehr. Interessant war, die Jugendlichen wollten immer englische Titel hören, aber ich konnte ja nicht englisch. Dann habe ich ein Tonband ablaufen lassen und habe mir das aufgeschrieben, wie ich das gehört habe. Das haben die niemals mitgekriegt, wenn wir gespielt haben. Wir hatten uns Noten besorgt, wir hatten uns mit einer Band in Greifswald, die IC Combo, die Noten ausgetauscht. Und dann haben wir damals viele Titel von der Band „The Shadows“ gespielt (Midnight, Wonderful Land, Peace Pipe), da waren wir schon dicke da gewesen. Das war die Zeit, wo die Gitarrengruppen aufkamen. War man damals ein kleiner Star in Stralsund mit der Band, hatten Sie „Schlag“ bei den Frauen? Ja natürlich, auch das. Wenn wir auf Hiddensee gespielt haben, dann kamen viele mit dem Dampfer, hatten sich ne Decke mitgenommen und die haben dann in den Dünen geschlafen. Das war ja gar nicht erlaubt. In Stralsund haben wir im Thälmannhaus gespielt und im Schuppen Greifswalder Chaussee. Da haben wir dann Nachmittags auch für die Jugendlichen gespielt.

The Hurricans, Bild privat 

(Eckhard Buchholz, dritter von rechts) 

Leseempfehlungen

Achim Schade Matthias Redieck (Hg.) Stralsund im Bombenhagel
Der Bombenangriff vom 6. Oktober 1944 mit Fotos aus der Sammlung Willy Lange
Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Oktober 2014

Werner  Schulz erinnert sich an sein Arbeitsleben auf der Volkswerft

Geboren am 18. Dezember 1921 in Altbork, einem ca. 9 km südwestlich von Kolberg gelegen Bauerndorf (heute  poln. Stary Borek),. Er erlernte auf einem Gut den Beruf eines Schmieds. Nach Militärzeit und mehrjähriger russischer Gefangenschaft, aus der er im Juli 1948 entlassen wurde, gelangte Walter Schulz als Vertriebener in die Gemeinde Rollwitz (heute Landkreis Vorpommern-Greifswald). Auf eine Anzeige in der Zeitung „Neues Deutschland“  bewarb er sich 1949 auf der Stralsunder Volkswerft. Sein erster Arbeitstag war der der 3. November 1949. Kurz danach, am 6. November 1949 wurde der erste Logger RL 401 auf den Namen Oktoberrevolution getauft (Näheres über diese Zeit auf der Volkswerft können Sie der Publikation "Die Loggerfabrik am Strelasund, Auferstanden aus Ruinen, von Werner Ortlieb und Jörg Matuschat in den Stralsunder Heften für Geschichte, Kultur und Alltag, Ausgabe 2012, Seite 80 bis 85 nachlesen). Zusammen mit anderen männlichen Kollegen , bewohnte er zunächst eine Stube in der ehemaligen Kaserne auf dem Dänholm. Erst nach seiner Heirat und der Geburt seiner Tochter im März 1951, bezog er zusammen mit seiner Frau eine Einzimmerwohnung in der Sarnowstraße. Ursprünglich als Schmied eingestellt, war er später in der Verformung (Schiffbauteilefertigung) an der Vier-Säulen-Presse beschäftigt.  Dort arbeitete er als Maschinenarbeiter, arbeitete sich hoch zum Arbeitsgruppenleiter und Arbeitsschutzobmann, und wurde mehrfach für seine Verbesserungsvorschläge belohnt und mit Urkunden geehrt  Er war auf der Volkswerft bis zu seiner Invalidisierung mit 61 Jahren im Oktober 1982 beschäftigt. 

Bild privat um 1950/51, mit den Mitbewohner auf dem Dänholm 

Ausschnitt aus der Werftzeitung

Ausschnitt aus der Werftzeitung

Artikel samt Foto aus der Werftzeitung

Foto aus der Werftzeitung, Werner Schulz (zweiter von rechts)

Artikel aus der Werftzeitung

Eine von den vielen Urkunden, die Herr Schulz erhalten hat.

Erste Ausschnitte aus zwei am 8. und 20. Juli 2022 von Herrn Freiherr von Houwald mit Herrn Werner Schulz geführten Interviews (wird fortgesetzt)

Zu den Umständen der Arbeitsaufnahme am 3. November 1949 und in der ersten Zeit

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v.H: Wir haben jetzt gerade darüber gesprochen, dass sie am 3. November 1949 ihren ersten Arbeitstag auf der Werft hatten. Gewohnt haben Sie auf dem Dänholm.
W.S. ja, Block 1, Hausmeister Krüger, das war `n ganz Gewissenhafter, hatte alles im Griff
v.H.: Dort haben Sie gewohnt mit mehreren jungen Männern.
W.S. 6, ja 6, alles Vertriebene und die kriegten Arbeit auf der Volkswerft. Und da die Quartiere von Stralsund und so weiter alle voll waren, kriegten wir jetzt auf dem Boden in der Kaserne ..., und da wurde denn ein Bett hingestellt und da wohnten wir denn. 
v.H.: Sie waren bei der ersten Loggertaufe dabei...
W.S.: ja, das war geschweißtes Schiff  (E-Schweißung), das andere war vorher alles mit Nieten.....
v.H.: Wann mussten Sie morgens aufstehen?
W.S.: Ooh, fünfe oder halb sechse, 
v.H. Bekamen Sie dort Frühstück
W.S.: ja, ja da war die zweite Kaserne, da war ein Konsum drin, Dort konnte man einkaufen, mit Marken, und da mussten wir uns selbst verpflegen. Mittags gab's warmes Essen auf der Werft, im 3-Schichten-System. Jede Schicht hatte eine Küchenbesatzung. Und dort gab es mehrere Gerichte, frisches Essen.
v.H.: Sind Sie gut verpflegt worden?
W.S.: ja, das war das alles
v.H.: Und wie war die Kameradschaft unter den Mitbewohnern? Wenn so viele junge Männer zusammen kommen?
W.S.: ja, die war so, ja. ja...So jung waren wir alle nicht, ich war der jüngste wieder mit.
v.H.: Wo kamen die anderen Mitbewohner her?
W.S.: ...Von Grimmen, Anklam und von, von, hier von ...
v.H.: Aus Pommern...
W.S.: ... und hatten auch verschiedene Berufe, nicht dat sie alle nur Schlosser waren oder Schmiede, nein, die wurden auch erst neu angefangen mit dem Beruf. Da war meist eine Hauptperson, und das andere, zwei, drei Mann waren ohne Beruf. Und mit der Zeit konnten die das auch .... 
v.H.: Und sind Sie mit der Fähre zur Werft gefahren worden, mit dem Boot?
W.S.: Nein, nein. Auf dem Dänholm ist doch der Rügendammbahnhof, und dann kommt die Brücke, die war damals wiederhergestellt ....
v.H.: Und Sie haben als Schmied angefangen...
W.S.: Ich war als Schmied angefangen. Und da ich nicht mehr als Schmied den Beruf weiter machen konnte,  wegen mit die Massenarbeit, da war der erste Vorschlag.... an meiner (Feuer-)Esse, hinter meinem Rücken wurde eine Maschine hingestellt ... dies war so eine Nietmaschine. Die Schiffe wurden damals noch genietet....Und die wurde nicht gebraucht. Und jetzt stand die da. "Und jetzt ich mit meinen Kloppen hier ..." ... habe ich mir die Maschine angeguckt und meinen ersten Vorschlag gemacht... Ein Bolzenfertighalter ... Vorher brauchte man 30 Hammerschläge, und  jetzt ohne einen Hammerschlag. Das war der Anfang..., das gab mir immer wieder neue Triebe, am Wochenende oder Nachts konnte ich dann richtig ausarbeiten. Und dann habe ich das wieder umgesetzt, aufgeschrieben und eingereicht und die haben das dann weiter bearbeitet, bis das das fertig war. Und dann wurde das gefördert, den Verbesserungsvorschlag. Dann habe ich eine Prämie, eine Urkunde bekommen.
v.H.: Wie viele Stunden mussten Sie arbeiten auf der Volkswerft?
W.S.: 8 Stunden, kommt auf die Schicht drauf an.....
v.H.: Ihr Arbeitsplatz war die Schmiede, da war es dann wahrscheinlich heiß?
W.S.: nein, da war es kalt und viel Lärm., die Ohren waren taub und haben gejuckt. Die Spätschicht zu Ende, dann haben die Ohren gejuckt und getrommelt.
v.H.: Gab es Ohrenschutz?
W.S.: ja. ja später auch. Ich hatte auch sehr viele Unfälle.
v.H.: Wie viele Kollegen hatten Sie?
W.S.: Da waren 6 Personen, jede Schicht drei. Und dann wurden die Aufträge größer. Und dann konnten wir Lehrlinge von der BBS beschäftigten, die mussten auch durchlaufen. Und so waren wir mit 14 Personen. Es waren genug Nebenarbeiten, Brennarbeiten und Beulen zu verrichten..... Wir hatten eine 250 Tonnen Hydraulik zum Verformen

Zu den Ereignisses am 17. Juni  1953

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Als Lothar geboren wurde (3. Mai 1953), waren in meinem Betrieb, die Volkswerft, heftige Auseinandersetzungen wegen der Norm. Die Stunden für die Aufträge sollten um 10 % gekürzt werden. Dann war der 17. Juni 1953. Die Russen stellten sich mit Waffen vor den Ausgang der Werft. 

Monika Brandt erinnert sich an den 17. Juni 1953 in Stralsund


Erfahrungen in der Kindheit - der 17. Juni 1953 (aufgeschrieben im März 2003)

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Ich war inzwischen Schülerin der 2. Klasse der Fritz-Reuter-Schule, wir schrieben das Jahr 1953, und es war kurz vor Ende des Schuljahres. Da wir noch kein Fernsehen kannten und die Nachrichten im Radio den Eltern vorbehalten waren, hatte sich von den Unruhen, die im Juni 1953 das Land erschütterten, nicht bis zu uns Kindern herumgesprochen.
Doch eines Morgens wurden wir bei Schulbeginn von unserer Klassenlehrerin, Frl. Volkmann, aufgefordert, sofort nach Hause zu gehen und uns im Haus, nicht auf der Straße, aufzuhalten. Meine Freundin, die einen weiten Schulweg hatte und am südlichen Stadtrand, direkt hinter der Werft, wohnte, kam erst einmal mit zu mir, weil meine Mutter zu Hause war. Auf meinem kurzen Heimweg von der Schule spürten nun auch wir Kinder, dass irgendetwas in der Luft lag. Es war unruhig und still zugleich. Die Unruhe schien von der Werft her zu kommen. Meine Mutter fand, dass vor allem erst einmal meine Freundin nach Hause müsse, damit sich ihre Eltern nicht Sorgen machen. Sie entschied: „Wir bringen sie heim, sie geht heute nicht allein"! Als wir zur Greifswalder Chaussee kamen, hörten wir lautes Rasseln und Klirren. Meine Mutter, die ja noch der Kriegsgeneration angehörte, wurde blass und sagte: „Da kommen Panzer!" Kurz darauf sahen wir sie dann auch. Russische Panzer kamen uns in langer Kolonne entgegen. Der ohrenbetäubende Krach, als die Stahlkolosse an uns vorbeifuhren, hatte uns Kinder völlig verstummen lassen. Wir sahen, dass die Panzer in die Werftstraße einbogen. Damit war klar: Sie fuhren zur Werft. Was war dort los? Meine Mutter beschleunigte ihre Schritte. In Franzenshöhe lieferten wir meine Freundin ganz rasch ab, ohne uns, wie es sonst normal war, noch länger aufzuhalten.
Die Unruhe meiner Mutter war inzwischen lange auf mich übergegangen, mir klapperten vor Angst regelrecht die Zähne, so dass meine Mutter mich immer wieder beruhigen musste. Aber das war nicht sehr wirkungsvoll, weil ich ihre Angst auch spürte. Die Angst vor Krieg oder kriegerischen Auseinandersetzungen war zu der Zeit in der Generation unserer Eltern noch sehr gegenwärtig. Zu Hause angekommen, gingen wir wieder auf den Dachboden, wo die übrigen Frauen aus unserem Haus immer noch an den Bodenfenstern standen und zur Werft hinüberschauten. Wir hatten den Eingang der Werft ja in Sichtweite, und die Männer arbeiteten alle auf der Werft. Was man von uns aus sah, war nicht dazu angetan, uns zu beruhigen: Die russischen Panzer standen vor dem Werfttor, die Kanonenrohre zeigten in Richtung Werft. Die Schranke am Einlass war geschlossen, und dahinter, also auf Werftgelände, standen dicht an dicht die Werftarbeiter. Man sah nur eine dunkle Menge.
Die nächsten Stunden vergingen in banger Erwartung, was nun werden würde.
Ich habe nicht in Erinnerung, wie lange das Ganze dauerte, ob die Männer noch am 17. Juni wieder heimkamen oder erst am nächsten Tag. Ich weiß nur noch, dass mein Vater auf die Frage, was denn auf der Werft los gewesen sei, in meiner Gegenwart nichts Konkretes antwortete. Er hätte am Schreibtisch gesessen und gearbeitet.

Monika Brandt erinnert sich an die Beschäftigung ihres Vaters Albrecht Brandt (13. Juli 1898 in Stralsund geboren) vom 1. September 1949 bis 31. Dezember 1964 als Schiffbauingenieur auf der Volkswerft Stralsund

Der bescheidene Anfang

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Mein Vater hat am 1. September 1949 seine Tätigkeit auf der Volkswerft begonnen. Für
meinen Vater ist es ein Glücksumstand gewesen: endlich weg von einer seinen Fähigkeiten
überhaupt nicht entsprechenden Arbeit als Bautischler und weg aus Weimar, zurück in seine Geburtsstadt Stralsund. Für mich ist der erste Arbeitsvertrag meines Vaters äußerst interessant: Nicht nur die Tatsache, dass er mit dem für damalige Verhältnisse ungeheuren Gehalt von 400,- DM anfängt und dass es im Gegensatz zu späteren Zeiten auch eine Probezeit von 6 Wochen gibt, machen den Reiz aus. Am aufschlussreichsten ist der dem eigentlichen Vertrag vorangestellte Leitgedanke unter der Überschrift „Was bedeutet die Mitarbeit in der volkseigenen Industriewirtschaft?“ Dass solche Ausführungen überhaupt nötig sind, spricht von der noch völlig fehlenden politischen Ausrichtung der Anzustellenden. Andererseits ist die Sprache dieser Präambel aber noch so wohltuend klar und verständlich, ja geradezu unpolitisch zu nennen, verglichen mit dem Schwulst späterer Jahre. 

Die Volkswerft ist hervorgegangen aus den Resten der kleinen Kröger-Werft, die während des Krieges Schnellboote gebaut hatte und unmittelbar nach Kriegsende als Ingenieur-Bau GmbH erst Reparaturarbeiten leistet und dann Holzkutter baut, die nicht zuletzt für den Fischfang und damit für die Versorgung der hungernden Bevölkerung nötig sind. Überlegungen des Landesvorstandes der SED und der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) gehen jedoch dahin, die Werftkapazitäten in Mecklenburg (das Land Mecklenburg beinhaltete auch Vorpommern) auszubauen. Der SMAD-Befehl Nr. 103 ist es, mit dem endgültig alles beginnt. Dort heißt es schlicht: „... Die deutsche Wirtschaftskommission hat die Ingenieur-Bau Stralsund für eine jährliche Fertigstellung von 100 Loggern herzurichten und sie ab 1. Januar 1949 in Betrieb zu bringen ....“ .

Als mein Vater 1949 nach Stralsund kommt, trägt die Werft bereits seit gut einem Jahr den
Namen „VEB Volkswerft Stralsund“ und hatte schon 4427 Beschäftigte. Ein Jahr zuvor sind
es erst 1462 gewesen. Zu den Werftlern gehören in der Aufbauphase viele artfremde Berufe, vor allem Bauleute und Tischler. Trotz des enormen Arbeitskräftezuwachses gibt es viel zu wenig erfahrene Schiffbauer. Die meisten Beschäftigten sind Umsiedler, ehemalige
Kriegsteilnehmer oder Umschüler, viele Leute jung und ohne erlernten Beruf. Es gilt also erst einmal, einen Facharbeiterstamm aufzubauen. Dabei hat mein Vater von Anfang an
geholfen. Viele künftige Meister haben unter anderem bei ihm auf der Schulbank gesessen
und in Abendkursen den Facharbeiter oder Meister gemacht. Einzelheiten dazu kann ich
heute noch der Werftzeitung entnehmen, die den Stundenplan der Betriebsvolkshochschule
der Volkswerft Stralsund für die Zeit September bis Dezember 1950 veröffentlichte. Danach
hat mein Vater folgenden Unterricht gegeben: Di 16.20 Uhr bis 17.50 Uhr Festigkeitslehre I
Di 18.00 Uhr bis 19.30 Uhr Übungen zu Festigkeitslehre I, Di ab 19.30 Uhr Festigkeitslehre II
Do 18.00 Uhr bis 19.30 Uhr Grundlagen und Gebrauch des Rechenschiebers. Der Unterricht findet in der Fritz-Reuter-Schule im Anschluß an den normalen Schulunterricht statt, da die Werft noch nicht über die erforderlichen Klassenräume verfügt. 

Wenn ich mir dieses Unterrichtsprogramm vor Augen halte, das ja nach Ende der regulären Arbeitszeit durchgeführt wird, ist mir klar, warum ich mich so gut daran erinnern kann, dass
mein Vater Unterricht gegeben hat: Für die Familie blieb sehr wenig Zeit, denn an den
„freien“ Abenden hat er sich vorbereitet, Arbeiten korrigiert usw. Ich habe aus meiner frühen 
Kindheit überwiegend die Erinnerung an einen Vater, der entweder im Dienst war oder zu
Hause arbeitete. Andererseits wird mir im Nachhinein auch bewusst, was die Werft/die volkseigene Industrie für riesige Anstrengungen in der Erwachsenenbildung unternehmen muss und auch unternimmt. Die Ausbildung ist für die Schüler kostenlos, die Lehrer bekommen ein Entgelt, das auch unsere magere Haushaltskasse aufbessern hilft. Viele derjenigen, die damals bei meinem Vater die Grundlagen des Rechenschieberrechnens oder der Festigkeitslehre erlernen, habe ich in späteren Jahren noch als erfolgreiche und tüchtige Meister der Werft kennen gelernt. 

Bei all diesen Aktivitäten ist es nicht überraschend, dass mein Vater bereits zum 1. Mai 1951als Aktivist ausgezeichnet wird, zu einer Zeit, als das noch selten ist und noch keine inflationären Tendenzen hat. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es zur Auszeichnung einen „Aktivistenpaß“ gibt, in den die Begründung für die Auszeichnung eingetragen wird. So ist der Nachwelt folgendes überliefert: „Der Koll. Brandt wurde im August 1950 vom Konstruktionsbüro zur Zentralen Planung (Perspektivplanung) umgesetzt, wo er als Abschnittsleiter für die Investitions- und Kapazitätsplanung eingesetzt wurde. Nur seiner eigenen Initiative und seinem unermüdlichen Arbeitseinsatz gegenüber allen Schwierigkeiten und Widerständen ist es zu verdanken, dass die Investitionspläne für den Fünfjahrplan und VEB-Plan 1951 bis ins kleinste spezifiziert auf Gewerke und Abteilungen und nach Maschinen, Fahrzeugen, Transportmitteln, Mobiliar usw. mit Preisen in bisher noch nie durchgeführter Weise erstellt wurden, wobei Koll. Brandt keine Nacht- und Feiertagsarbeit scheute, um die Erstellung in kürzester Zeit durchzuführen. Er gibt mit seinem Arbeitsplan allen Kollegen der Perspektivplanung ein nachzueiferndes Vorbild.“ Die Begründung zeugt sowohl vom Arbeitseifer meines Vaters als auch vom schlechten Deutsch des Textschreibers. Das grässliche Wort „erstellen“ beginnt also bereits 1951 seinen „Siegeszug“ durch die DDR .

Familiärer Neubeginn


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Anfangs ist mein Vater noch allein in Stralsund und wohnt zur Untermiete bei Familie
Sengbusch in der Fährhofstr. 24. Doch die ersten Neubauten, die in Stralsund an der
Reiferbahn, am Frankenhof und am Carl-Heydemann-Ring entstehen, sind bereits
vorzugsweise für die Werftarbeiter bestimmt. Im Nachkriegsdeutschland ist eine eigene
Wohnung etwas, wovon viele lange nur träumen können, und so ist es auch eine besondere
Ehre, dass meinem Vater eine der ersten Wohnungen zugewiesen wird: in der Reiferbahn
27. Meine Mutter und ich kommen am 8. Juli 1950 von Weimar nach Stralsund, und das
gemeinsame Familienleben beginnt.

An anderer Stelle habe ich über unser erstes Heim berichtet, über seine Vor- und vor allem
über seine Nachteile. Die oben genannte besondere Ehre wird in der Folgezeit eine
ziemliche Last, von der ich mich erst nach der Wende „befreien“ kann. Bis zum Ende der
DDR gilt die Reiferbahn-Wohnung als „ausreichender und angemessener“ Wohnraum.
Meine Kinderzeit in Stralsund beginnt damit, dass ich in den Kindergarten geschickt werde.
Immer noch geht mir der Ruf voraus, Angst vor Kindern und größeren Menschenmengen,
Angst vor viel Lärm zu haben. Vermutlich stimmt das auch, denn meine Abneigung gegen
viele Menschen und Lärm hat mich mein Leben lang begleitet. Ich muss also weiterhin an
Kinder gewöhnt werden, damit es in der Schule später keine Katastrophe gibt. Während ich
in Weimar in einem katholischen Kindergarten gewesen bin, komme ich nun in den
Evangelischen Kindergarten Diebsteig, der seinerzeit von Schwester Martha, einer
Diakonisse, geleitet wird. Gern gehe ich auch in diesen Kindergarten nicht, das hat
zumindest einen Grund in der täglichen Lebertran-Gabe. Dieser Löffel Lebertran ist ganz
gewiss überaus wichtig in einer Zeit der unzureichender Ernährung, aber geschmeckt hat er
deshalb doch nicht besser. Wir müssen jeden Morgen mit unserem Teelöffel in der Hand vor Schwester Martha antreten, bekommen unsere Ration und müssen diese vor ihren Augen auch runterschlucken. Sie kontrolliert, ob der Mund leer ist! Der Teelöffel existiert noch, er heißt bis heute der „Lebertran-Löffel“.

Sehr umfangreich ist meine Kindergarten-Laufbahn auch in Stralsund nicht mehr, denn
abgesehen von der Abwesenheit wegen diverser Krankheiten, meist Angina, werde ich ja
bereits im September 1951 eingeschult. Gekennzeichnet ist meine Kindheit vor allem dadurch, dass meine Mutter auf Wunsch meines Vaters nicht mehr berufstätig ist. Es hat viele Anfragen gegeben, denn auch erfahrene Sekretärinnen sind in den Anfangsjahren auf der Werft Mangelware. Meine Mutter hätte wohl gerne wieder ein paar Stunden gearbeitet, aber der Wunsch meines Vaters ging vor.  Ich wachse daher also als „Hauskind“ auf, im Gegensatz zu den vielen „Hortkindern“.

Die Werft wächst

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... in Verbindung mit der Sowjetunion


Die Volkswerft ist insgesamt ein riesiges Aufbauwerk gewesen. Sie ist, wie bereits erwähnt,
auf sowjetischen Befehl hin entstanden, und die Verbindung mit der Sowjetunion war bis
zum Ende des „VEB Volkswerft“ so eng wie nur irgend möglich. Das spiegelt sich auch in
verschiedenster Form in der Zeitung „Unsere Werft“ wider, die es seit Gründung des
Betriebes gibt: Zu meiner großen Überraschung sind in den Jahren 1948, 1949 und 1950 Briefe deutscher Kriegsgefangener aus sowjetischen Gefangenenlagern (mit Angabe der jeweiligen Lager- Nummer) abgedruckt. Ganz offensichtlich sind das gelenkte Zuschriften, denn sie äußern sich unisono freundlich gegenüber den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in der SBZ, aber es ist für mich doch verblüffend, dass es sie überhaupt gibt und dass sie abgedruckt werden. Sowjetische Kriegsgefangenschaft mit all ihren Begleiterscheinungen unterliegt damals ja durchaus einem gewissen kollektiven Verschweigen. Durch die enge Verbindung mit der Sowjetunion wird aber leider auch etwas übernommen, was penetrant ist: der Stalinkult. Die alten Werftzeitungen bieten auch dafür hinreichend Beispiele. Als Stalin im März 1953 stirbt, widmet die Werftzeitung dem „Generalissimus“ eine ganze Ausgabe mit -zig Stellungnahmen zutiefst trauernder Werftangehöriger. Es ist selbst  für uns, die ja noch in der Zeit des Personenkults aufgewachsen sind, nicht zu ertragen.

... kulturell


Seit 1950 erscheinen in der Werftzeitung regelmäßig Beiträge über Literatur und die neu
errichtete – kostenlos zu nutzende - Betriebsbücherei (später: Gewerkschaftsbücherei). Ihr
Chef, Wolf Wähnke, stellt in der Serie „Was lesen wir am Feierabend?“ neue Bücher, neue
Autoren vor. Das Schwergewicht liegt dabei auch auf sowjetischer Literatur, für die es wegen der zurückliegenden Nazizeit ja einen Nachholebedarf gibt. Es werden aber auch deutsche Schriftsteller mit ihren Werken vorgestellt, wie z. B. Anna Seghers, Willi Bredel, Ludwig Renn. Diese Serie nimmt einen ganz klaren Bildungsauftrag wahr, der sich auch in Beiträgen wiederfindet, der Film- und Theateraufführungen zum Inhalt hat. Die Artikel sind gut formuliert, erfordern keine nennenswerte Vorbildung und sind im besten Sinne
populärwissenschaftlich. Seit unserem Umzug nach Stralsund beziehe auch ich einen Großteil meiner Kinderliteratur aus der werfteigenen Bücherei, in der auch meine Eltern Leser sind. Wolf Wähnke erkennt rasch, dass ich nicht nur schnell und gerne lese, sondern auch eine Abneigung gegen abgenutzte Bücher habe. Bis zum Tode von Wolf Wähnke im Jahr 1987 bekomme ich, wenn irgend möglich, Bücher als „Erstleserin“. 

Und ich bekomme in späteren Jahren auch Bücher, die er nicht mehr ins Regal stellt, weil es sich um „Kontingentliteratur“ handelt, die im Falle eines Diebstahls nicht wieder beschaffbar ist. So bekomme ich Bücher von Stefan Zweig, von Böll und anderen Autoren in die Hand, für deren Bücher die Verlagsrechte in Westdeutschland liegen. In den Anfangsjahren bestehen diese Probleme mit Kontingentliteratur jedoch noch nicht, im Gegenteil, es gibt sogar die Möglichkeit, als Privatmensch Fachbücher aus dem Westen über die Werft zum Preis 1:1 zu erwerben. So kauft mein Vater einige Standardwerke des Schiffbaus und des Maschinenbaus, dazu gehört auch der Dubbel, das Nachschlagewerk für Maschinenbau. Dazu gehören weiterhin die Taschenwörterbücher von Langenscheidt für Englisch, später für Russisch, Französisch, Griechisch und Latein. 

Mit diesen Wörterbüchern und dem Dubbel bin ich durch Schule und Studium gegangen, und erst nach Jahrzehnten, als das Vokabular teilweise doch ziemlich veraltet ist, trenne ich mich von einigen dieser Wörterbücher. Bis heute haben die Englisch- und Latein-Wörterbücher in unserem Haushalt überlebt. In den ersteren steht, von meinem Vater notiert: „Am 22.1.1953 in der Bücherei der Volkswerft gekauft. Bezahlt DM 6,45.“ Diese Preise haben sich auch 1959 noch nicht verändert, da kosten die beiden Latein-Wörterbücher zusammen 12,80 DM. Ich erwähne diese Möglichkeit, in volkseigenen Betrieben privat Bücher aus westdeutschen Verlagen zu erwerben, nur deshalb, weil in späteren Jahren die Bibliotheken selbst ja enorme Schwierigkeiten haben, für den eigenen Bestand Kontingentliteratur zu erwerben. Wenn man die Werftzeitungen der ersten Jahre liest, wird einem die ungeheure  Bildungsarbeit bewusst, die von der damals sehr kleinen Schicht der Intelligenz, des Bürgertums und der Kulturbeauftragten geleistet wird. Nicht nur das Lesen und der Besitz von Büchern werden im Laufe der Jahre zu einer Selbstverständlichkeit, auch Theaterbesuche, das Musizieren an Musikschulen, die Arbeit in Chören, Tanzgruppen, Malzirkeln und Sportvereinen werden unabhängig von sozialen Schichten immer beliebter und selbstverständlicher. Alle kulturelle Betätigung ist kostenlos.

 
... sozial


In den Werftzeitungen jener Jahre findet sich auch eine weitere Errungenschaft der neuen
Zeit, nämlich der Feriendienst des FDGB (FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Im

Januar werden die angebotenen Ferienplätze veröffentlicht, für die sich die Interessenten
bewerben können. Auch das In-Urlaub-Fahren ist Anfang der 50er Jahre keine Selbstverständlichkeit, in vielen Familien fehlen (noch) die Väter, das Geld ist knapp, und „man“ verreist in Arbeiterkreisen nicht, bestenfalls fährt man zu Verwandten.
So kommt es, dass die Familien, die sich damals für Ferienplätze interessieren, auch
meistens einen Platz bekommen. Unsere Familie verlebt 1952 den Urlaub in Schierke/Harz,
1953 in Ahlbeck/Usedom und 1954 in Friedrichroda/Thür. Der Urlaub umfasst jeweils 13 Tage und kostet bei einem 3-Bett-Zimmer 1953 beispielsweise für Organisierte, also FDGB- Angehörige, 60,-DM. Nichtorganisierte zahlen einen Zuschlag von 15,- DM. In diesen Preisen ist alles enthalten, also Unterkunft und Vollpension. Dass wir in einem Arbeiter- und Bauernstaat leben, geht aus dem Verteilerschlüssel für die Ferienplätze hervor: 45 % für Produktionsarbeiter, 15 % für technische Angestellte, 15 % für Angestellte, 25 % für Familienangehörige. Werden die Plätze z. B. durch Produktionsarbeiter nicht in Anspruch genommen, können sie von anderen gebucht werden. 

Nachdem im Mai 1952 bereits die Kinderkrippe der Werft eröffnet worden war, im Juli die
Betriebspoliklinik, im Januar 1953 das Klubhaus „Ernst Thälmann“, im November 1953 der
erste Betriebskindergarten Gartenstraße, wird im Juli 1954 dort noch ein Kinderhort mit einer Kapazität von 60 Plätzen eingeweiht. Anfangs reicht die Kapazität dafür aus, dass in einer Etage der Kindergarten, in der anderen der Hort untergebracht ist. Das ist jedoch nur
solange der Fall, bis der Hort „ausgelagert“ wird ans Bebel-Ufer, in das Haus, das jahrelang
als russische Kommandantur fungierte und ein - auch für Deutsche nutzbares - „Magasin“
beherbergte. Den Hort in der Gartenstraße habe ich Mitte der 50er Jahre noch als Beherbergungsstätte in den Ferienspielen erlebt, später ist das Haus dann auch der Kindergarten meines Sohnes. Dieses Haus gehört bis zur Wende der Werft, die Versorgung erfolgt weitgehend durch den Betrieb. Es ist der einzige Kindergarten, in dem Kinder in „Vollpension“ sind, d. h. es gibt auch Frühstück und Nachmittagskaffee. Das hat zur Folge, dass mein Sohn z. B. überhaupt keine Brottasche kennenlernt, weil die Kinder nichts zu essen mitbringen müssen. Ich habe diese Rundum-Verpflegung sehr geschätzt, denn wenn es Obst gab, gab es das eben für alle, wenn es etwas zum Naschen gab, bekamen alle das Gleiche. Das ist in Mangelzeiten sehr positiv.

Zu den sozialen Errungenschaften jener Anfangsjahre gehört auch die Möglichkeit, per
Werft-Abonnement ins Kino und ins Theater zu gehen. Meine Eltern machen von beidem
Gebrauch, zu meinem Entsetzen, denn ich habe abends allein in der Wohnung Angst und
schreie die Nachbarschaft zusammen. Das verschafft meinen Eltern beim Heimkommen immer einen besonderen kulturellen Höhepunkt!

Die Zeit nach dem 17. Juni 1953

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Das Jahr 1953 ist nicht nur gekennzeichnet durch den Tod Stalins und die Kämpfe um seine
Nachfolge, sondern in der DDR auch durch Verschlechterung der Versorgung, durch
Preiserhöhungen für ausgewählte Nahrungsmittel und durch Normerhöhungen in den
Betrieben. Die Gesamtsituation führt zu den bekannten Ereignissen des 17. Juni und der
Folgetage. Über meine Erinnerungen daran habe ich an anderer Stelle berichtet. Auch in den
Werftzeitungen sind die Normerhöhungen Gegenstand der Berichterstattung. Aber bereits in der Nr. 21 vom 6.7.53 ist der Tenor folgender: „Kollegen unserer Volkswerft nehmen zu den Ereignissen am 18. Juni Stellung“, und diese Stellungnahmen gipfeln in der Feststellung
„Unsere Regierung hat unser Vertrauen“. Ganz sicher ist man sich aber wohl doch nicht, denn man schickt den Kandidaten des ZK der SED, Gen. Prof. Kurt Hager, zur Werft für eine „offene Aussprache“. In der Werftzeitung vom 20.7. wird stolz vermeldet, dass es 29 Wortmeldungen zu 85 angeschnittenen Themen gegeben hat, darunter die Gemüseversorgung. Damit ist ein Thema angeschnitten, das bis zum Ende der DDR trauriger Schwerpunkt bleibt: die Obst- und Gemüseversorgung, später kommt noch die Fleischversorgung dazu.

Da die SED im Juli 1953 festgestellt hat, dass in der Vergangenheit zwar Fehler gemacht
worden sind, die Generallinie der Partei aber richtig gewesen ist, wird die Politik mehr oder
weniger unverändert fortgesetzt. Vorerst geht die Regierung der DDR aus den Ereignissen
des Juni gestärkt hervor. Allerdings ist in der Folgezeit zu beobachten, dass man auf die
Verbesserung der Lebensbedingungen und auf die Erhöhung der Löhne stärker achtet als
zuvor. Wer allerdings einen politischen Kurswechsel erhofft hat, ist enttäuscht. Diese
Erkenntnis spiegelt sich auch in der Zahl der Flüchtlinge wider, die 1953 die DDR in Richtung
Westen verlassen: 391390, das ist mehr als doppelt so viel wie 1952. Immer wieder schickt die Parteiführung „führende Genossen“ in die Großbetriebe, um Agitation zu betreiben und der Bevölkerung so etwas wie Mitspracherecht, um nicht zu sagen Demokratie, vorzuspielen. So „berät“ im Juli 1954 Genosse Karl Schirdewan mit den
Arbeitern der Volkswerft die nächsten Aufgaben. 

Ins Jahr 1954 fällt in der Werft auch die Bildung von „Arbeitskonflikt-Kommissionen“, später immer nur in der Kurzform „Konfliktkommission“ genannt, die sich um die Lösung von Arbeitskonflikten auf unterer Ebene kümmert. Es ist ein gewerkschaftliches Gremium. Anfangs sind die Mitglieder vom Werftleiter benannt worden, später wurde gewählt. Mein Vater wird für die AGL (Abteilungsgewerkschaftsleitung) Technische Direktion als Mitglied der ersten Konfliktkommission benannt.


... mit Blick über die deutsch-deutsche Grenze

Bei der Durchsicht der alten Werftzeitungen bin ich sehr überrascht, wie lange noch über die
deutsch-deutsche Grenze geschaut wird, wie lange noch Verbindungen zu Werften und
Vereinen in der Bundesrepublik bestehen. Natürlich meist unter den entsprechenden
Vorzeichen, aber für mich, der in späteren Jahren das Wort „Hamburg“ aus einem Artikel für
die Werftzeitung gestrichen wird, ist das schon erstaunlich. So lautet am 18.12.54 eine
Überschrift in der Werftzeitung „Die Werktätigen der Volkswerft Stralsund grüßen die
Werktätigen Flensburgs und erklären sich mit ihnen solidarisch im Kampf gegen die
Remilitarisierung“. Auch in den Folgejahren findet sich die Bundesrepublik genau wie das
sonstige kapitalistische Ausland unter den verschiedensten Überschriften in der
Werftzeitung:

  • 1955: „Brüder in Ost und West“ ( Es wird über eine Fahrt nach Hamburg berichtet)
  • 1955: „Motor Stralsund spielte in Hamburg“
  • 1955: „Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit“
  • 1955: „Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland“
  • 1958: „Werftangehörige weilten in den Ostseestaaten“ (Urlaub in der Sowjetunion, Polen, Norwegen, Dänemark und Schweden)
  • 1960: „Kommt zu uns, liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
  • 1960: „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
  • 1960: „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.

Die Stellung der Intelligenz in den fünfziger und sechziger Jahren

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Ein Thema, das in meiner Kindheit nicht nur die Zeitungen immer wieder aufgreifen, sondern
das auch in der Werft und bei uns zu Hause diskutiert wird, ist die Stellung und Behandlung
der Intelligenz. Während man bis Kriegsende und später auch in der BRD bei dem Wort
Intelligenz in erster Linie an Klugheit oder leichte Auffassungsgabe denkt, verbinden die
meisten DDR-Bürger mit diesem Wort den Gedanken an eine Gesellschaftsschicht, die im
Gegensatz zur Schicht bzw. Klasse der Arbeiter und Bauern steht. Die soziale, gesellschaftliche Schicht, aus der man kommt, spielt eine gewaltige Rolle. Selbst in den Klassenbüchern der Schulen wird die soziale Herkunft rot dokumentiert durch einen
entsprechenden Buchstaben vor dem Namen (z. B.: A = Arbeiter, B = Bauern, I = Intelligenz). Der Makel, aus der Intelligenz zu stammen, kann nur noch übertroffen werden von der Herkunft aus einem Pfarrhaus oder von Selbständigen (Geschäftsleuten, kleinen Handwerksbetrieben u. ä.). Ich bin schon ein glücklicher Mensch, dass ich - muss ich meine Herkunft angeben - wenigstens sagen kann technische Intelligenz, das ist nicht ganz so schlimm wie Mediziner und Künstler. Die Missachtung der Intelligenz steht im Zusammenhang mit der Verachtung aller bürgerlichen Tugenden, Eigenschaften, Verhaltensweisen und Ziele. 1945 ist ein „Studierter“ in der Mehrheit jemand, der aus bürgerlichen Verhältnissen kommt und damit per se verdächtig ist, ein Klassengegner zu sein. Zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung und zum Aufbau der Industrie ist die Intelligenz aber anfangs dringend nötig. Sie wird gebraucht, daher auch bis zu einem gewissen Grade gehätschelt, aber gleichzeitig sehr argwöhnisch beobachtet. Um sich von bürgerlichen Normen abzusetzen, wird die in der DDR arbeitende Intelligenz mit dem Zusatz schaffende oder werktätige versehen.

Bereits 1950 begann ein Buhlen um die „alte Intelligenz“. Die offene Grenze und der sich
verschärfende politische Druck lassen ja nicht nur insgesamt die Flüchtlingszahlen
ansteigen, sondern gerade auch die der Intelligenz, sowohl der technischen als auch der
medizinischen. Man muss also versuchen, die vorhandenen Leute zu halten. Das geschieht
u. a. durch Abschluss sogenannter „Einzelverträge“. Der Vertrag mit meinem Vater ist datiert vom 1.6.1951 und ist in den Folgejahren erweitert und verändert worden (siehe Abbildungen). Das Ziel des Vertrages wird unmissverständlich formuliert: „... Herr Brandt erklärt sich bereit, seine Kenntnisse und Erfahrungen gleicherweise in den Dienst der Heranbildung von qualifizierten Fachkräften sowie des allgemeinen technischen,
wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts zu stellen. .... Dadurch sind zugleich wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass zwischen Herrn Brandt als Vertreter der werktätigen Intelligenz und der Belegschaft des Werkes ein dauerhaftes Verhältnis des Vertrauens und der gegenseitigen Achtung entsteht.“

Ein sehr wichtiger Punkt dieser Verträge ist die Zusicherung einer zusätzlichen
Altersversorgung, d. h. die Rente beträgt für die Besitzer solcher Einzelverträge 60 % (bis
80% z. B. für Ärzte) des durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommens. Das ist gemessen an den niedrigen DDR-Renten eine fürstliche Altersrente, zumal dem Ehepartner für den Todesfall des Vertrags-Inhabers 50 % der Bezüge zugestanden werden. Neben der Altersversorgung beinhalten diese Einzelverträge aber auch solche Zusicherungen, wie angemessenen Wohnraum (was als angemessen gilt, steht allerdings auf einem anderen Blatt), die gewünschte (Aus-)Bildung für die Kinder usw.
Trotz dieser Vergünstigungen verlassen viele alte Intelligenzler die DDR, und auch bei uns
wird dieses Thema immer wieder diskutiert. Natürlich nicht mit mir, aber die Wände und
Türen sind zu dünn, als dass ich diese Unterhaltungen meiner Eltern überhören kann.

Letzten Endes bleiben wir in Stralsund, weil sich mein Vater, der ja Jahrgang 1898 ist, in
seinem Alter auch in der Bundesrepublik keine Berufschancen mehr ausrechnet. Noch
einmal bei Null anzufangen, erschien ihm unmöglich. Dennoch muss die Frage irgendwann
Anfang/Mitte der 50er Jahre einmal sehr akut gewesen sein, denn auch ich werde mit
einbezogen. Meine entsetzte Antwort: „Ich will hier nicht weg!“ Die Vorstellung, Schule,
Klasse, Lehrer, meine Freundin usw. aufzugeben, war für mich völlig undenkbar.

So bleibt also die „alte Intelligenz“ in Stralsund und macht das Auf und Ab in den Folgejahren mit. Es wird in der Tendenz allerdings mehr ein Ab. In den Jahren bis 1956 etwa wird die technische Intelligenz immer wieder mit Bedacht gehätschelt. So gibt es beispielsweise in der Werft einen „Intelligenz-Speisesaal“ mit weißen Tischtüchern und anfangs sogar mit Bedienung, wo die leitenden Angestellten essen. Dieser Raum dient auch kleineren „elitären“ Veranstaltungen als Heimstatt. So hält beispielsweise im Februar 1955 Prof. Lemnitz (Wirtschaftswissenschaftler, später Minister für Volksbildung, Vorgänger von Margot Honecker) im Intelligenz-Speisesaal der Werft einen Vortrag vor „...Angehörigen der schaffenden Intelligenz unserer Volkswerft“. In dieser Zeit legt man auch großen Wert darauf, dass sich Intelligenzler zu politischen Tagesfragen äußern. So finde ich in der Werftzeitung vom 16. Juli 1955 einige markige Worte meines Vaters unter der Überschrift „Intelligenzler zu der Einladung an Adenauer“: Ingenieur Brandt, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung, begrüßt vor allem, dass die Sowjetunion die Initiative zu Besprechungen mit Adenauer ergriffen hat. Dadurch ist die Möglichkeit zur Erhaltung des Friedens und zu einer Wiedervereinigung gegeben. Er sagte weiter: „Das gesamte Deutschland muss darauf dringen, dass es zu einer Einigung in Moskau kommt und Adenauer von seinen Bündnissen mit dem Westen ablässt“.Ob er das wirklich gesagt hat, ist zumindest für die indirekt wiedergegebene Rede zweifelhaft. Andererseits wird deutlich, dass das Thema Wiedervereinigung in jenen Jahren noch allgegenwärtig ist, was ich aus meiner Oberschulzeit, also 1959 bis 1963, bestätigen kann, da wir alle Vorschläge, Deutschlandpläne usw. im Fach Staatsbürgerkunde durchkauen.

Dass normale Alltagsthemen in der Werftzeitung separat nach Intelligenz und Werkern
abgehandelt werden, kann man noch bis Anfang der 60er Jahre verfolgen. Bis zum
Mauerbau 1961 versucht man wenigstens noch ab und zu einen moderaten Umgang mit der schaffenden Intelligenz vor allem in der Industrie, denn zu viele verlassen das Land.
Gemessen wird die Intelligenz aber stets an ihrer Haltung zur Partei der Arbeiterklasse, zur
SED. Bei uns zu Hause kocht die Diskussion über die Intelligenz an den verschiedensten Enden hoch. Ein Thema, an das ich mich sehr deutlich erinnere, ist die Begabtenförderung. Das ist ein derart bürgerlicher Begriff, der schon als Wort gefährlich ist. Wer es verwendet, outet sich automatisch als „Gestriger“. Im Sozialismus jener Jahre lehnt man Begabungen total ab. Ein fataler Irrtum, der sich später auswirkt, als man nämlich viele Begabungen bereits hatte verkümmern lassen. Wenn ein Schüler damals nun durch überdurchschnittliche Leistungen auffällt, gibt es keine „Extraration“ an Wissen, sondern es wird als einziges angeboten, dass er eine Klasse überspringt. Das ist auch in unserer Familie diskutiert worden, kam aber nicht zustande, denn erstens habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt (Begründung, siehe oben!), und zweitens sind meine Eltern sehr vernünftig, denn ich war ja bereits in meiner Altersklasse die Jüngste.

Ein anderes Thema, das mit der falschen sozialen Herkunft in enger Verbindung steht, ist
der Besuch der Oberschule. Es gibt für die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur führt, feste
Quoten: soundsoviel Prozent Arbeiterkinder, soundsoviel Bauernkinder (wenn vorhanden),
soundsoviel Angestelltenkinder ... Vielen Kinder aus Medizinerfamilien, von Handwerkern
und Theologen ... wird daher prinzipiell der Zugang zur Oberschule verwehrt. Und viele
Familien gehen allein aus diesem Grund den Weg in den Westen. So wird auch das Thema
„Jugendweihe“ in diesem Kontext zu einem Zerreißthema in vielen dieser betroffenen
Familien. Dennoch finden sich die Intelligenzler der Werft aus den verschiedensten Gründen immer mal in der Werftzeitung wieder, und zwar unabhängig von einer Mitgliedschaft in der SED. Das hat ab und an mal fachliche Gründe, aber meistens sind es geforderte Stellungnahmen zu irgendwelchen politischen Ereignissen. Das ändert sich Anfang der 60er Jahre, da ist der erste studierte Nachwuchs aus den Reihen der Arbeiterklasse so weit, dass er ein Wort in Industrie, Gesundheitswesen usw. mitreden kann. Von nun an hören sich die Wortmeldungen in der Presse etwas anders an. Werftzeitung vom 30.3.1961:
„Wie stehen wir zur alten Intelligenz? ....Wenn wir genau einschätzen wollen vom Standpunkt der Volkswerft meinetwegen, können wir doch eines sagen, die Arbeiterklasse hat bereits eine eigene Intelligenz ...“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger als „wir brauchen euch nicht mehr!“ Als wenige Monate später dann durch den Mauerbau in Berlin die letzte Möglichkeit entfällt, den ungeliebten Staat zu verlassen, ist die Lage der alten Intelligenz entschieden. Sie hat den Mund zu halten und auf ihre - in der Tat nicht schlechte - Rente zu warten.


Soziales aus den 50er Jahren

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In den Anfangsjahren der Werft steht die Versorgung der Beschäftigten an oberster Stelle.
Dazu gehört von Beginn an die warme Mittagsmahlzeit. Eine der ersten mir erinnerlichen
Erzählungen meines Vaters - die Werft betreffend - dreht sich daher auch ums Essen. Es
gibt oft Fisch, meist saisonbedingte Angebote gefangen von Kuttern der Werft. So kommt
also auch im Mai der Hornhecht auf den Tisch, der Fisch mit den grünen Gräten. Das wird
für meinen Vater eine Zeit der Fettlebe, denn der Hornhecht wird von der Mehrzahl der Leute abgelehnt. Das war kein Wunder, Hornfisch ist auch heute noch meist nur an der Küste bekannt. Die vielen Umsiedler, die damals auf der Werft arbeiten, haben in ihrem Leben nie einen Fisch mit grünen Gräten gesehen, halten ihn für vergammelt und essen ihn nicht. Mein Vater, der Hornfisch seit Kindertagen kennt und schätzt, darf essen, soviel er will. Eine wunderbare Sache in jener Zeit der Mangelernährung!

Ende der 50er Jahre hat sich der Speiseplan der Werft bereits erheblich verbessert. Es gibt
täglich 4 verschiedene Essen zur Auswahl: Stammessen, 2 Wahlessen und ein Diätessen.
Der Speiseplan wird jede Woche in der Werftzeitung veröffentlicht, die Essenmarken werden
im Vorverkauf erworben. Wie die Verpflegung im Detail aussieht, zeigt z. B. das Angebot von Montag, dem 4. Februar  1957:


1. Stammessen /0,50 DM/ - Thüringer Rotwurst, Pilztunke, Kartoffelpürree
2. Wahlessen II /0,80 DM/ - Gekochtes Schweinefleisch, Sauerkraut, Salzkartoffeln
und Apfelmus
3. Wahlessen I /1,00 DM/ - Ochsenschwanzsuppe, gek. Kasseler, Salzkartoffeln und
Heidelbeerkompott
4. Diätessen /0,50 DM/ - Kartoffelsuppe mit Fleischeinlage, Butterbrötchen.

Das ist für die damalige Zeit in der DDR kein schlechtes Angebot. Mein Vater hat sich im
allgemeinen für das Gedeckessen, also das Wahlessen I, entschieden und ist damit gut gefahren. 

Neben der Esserei beschäftigt die Werft sich aber auch intensiv mit der Unterbringung von Kindern in Krippen und Kindergärten, denn immer noch sind Arbeitskräfte rar, und man muß
Frauen in den Produktionsprozeß mit einbeziehen. Das setzt jedoch die Unterbringung der
Kinder voraus. So wurde zu den bestehenden Einrichtungen 1957 auf dem Dänholm noch
ein Kinderwochenheim eingerichtet. Der Dänholm wird in den Nachkriegsjahren ausschließlich zivil genutzt, zum ersten Mal in seiner Geschichte übrigens, und hat damals auch für die Werft noch eine sehr große Bedeutung, denn in den ehemaligen Marine-Kasernen wohnen sehr viele Werftangehörige, für die es im Stadtgebiet noch keinen ausreichenden Wohnraum gibt. Die Wohnungssituation entspannt sich überhaupt erst etwas in den Jahren bis 1955, denn 1954 wird die AWG Volkswerft (AWG = Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft) gegründet, und viele Werftangehörige beginnen mit dem Bau von Eigenheimen. Auch mein Vater hätte diese Möglichkeit gehabt, aber er war dazu einfach zu alt, denn neben einem hohen finanziellen Eigenanteil werden Eigenleistungen verlangt, sogenannte Aufbaustunden. Und wenn man heute liest, dass jedes AWG-Mitglied etwa 1.200 bis 1.300 Aufbaustunden geleistet hat, so verstehe ich meinen Vater durchaus.
Anfang der 50er Jahre jedenfalls ist der Dänholm noch dicht besiedelt. Auch aus meiner
Schulklasse kommt die Hälfte der Kinder von dort. Wir anderen beneiden sie, denn sie
haben zum Zuspätkommen sozusagen einen Freibrief: „Die Brücke war hoch, wir konnten
nicht früher kommen!“ Gemeint ist die Ziegelgrabenbrücke, die zwar reguläre Öffnungszeiten hat, bei der aber durchaus öfter mal technische Pannen auftreten, die von den Lehrern nicht zu überprüfen sind. 

Zum Ende der 50er Jahre bestimmen aber noch andere Themen das Leben der Werftler und
ihrer Familien. Darüber geben Überschriften aus der Werftzeitung von 1957/58 Auskunft:

  • Brief an Jupp Angenfort (ein westdeutscher Kommunist, der gerade mal wieder
  • eingesperrt war)
  • Brüder in Ost und West (über eine Fahrt nach Hamburg)
  • Motor Stralsund spielte in Hamburg
  • Für die Frau: Was kocht Käthe? (Rezepte)
  • Erfolgreiche Großübung der Kampfgruppen (nach dem Aufstand 1953 gegründete
  • paramilitärische Organisation in Großbetrieben, zum Schutz der Industrie gedacht)
  • Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit
  • Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland
  • Sonderklassen, ja oder nein?


Letzteres beinhaltet die beabsichtigte Veränderung im Fremdsprachenunterricht Russisch:
Die sogenannten Sonderklassen haben Russischunterricht bereits ab Klassenstufe 3. Da
dafür natürlich nur die besten Schüler ausgewählt werden, ist das Niveau in solchen Klassen insgesamt höher als sonst üblich. Es ist somit also eine sozialistische Sonder-Form der Frühförderung begabter Schüler, ein generelles Umdenken, was Begabtenförderung angeht, ist es jedoch noch lange nicht. Für mich kommt aber selbst diese Errungenschaft zu spät, ich bin inzwischen schon in der 7. Klasse. 

Im schulischen Bereich gibt es aber seit dem 1. September 1958 eine weitere Neuerung,
die auch meinen Jahrgang betrifft: Der polytechnische Unterricht wird eingeführt. Die Schüler der Fritz-Reuter-Schule haben damit einen Tag in der Woche UTP (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion) im Bereich Reparaturen der Volkswerft. Dass mit dieser sehr kurzfristigen Einführung alle überfordert waren, ist nachzuvollziehen. Die Werker wissen mit uns kleinen Stiften wenig anzufangen, denn die Arbeit ist ja körperlich sehr schwer und nicht unbedingt für 13-/14-jährige Schüler geeignet. Dennoch haben sich einige Bereiche viel Mühe gegeben. Oft hängt das unmittelbar mit dem jeweiligen Chef zusammen, hat der Kinder, weiß er auch, was diese Altersklasse interessiert. Neben Büroarbeit, die ich nicht sehr aufregend fand, habe ich in der 8. Klasse auch genietet (eine schwere und sehr lärmintensive Arbeit). Daran hat sich später unsere Klassenlehrerin, Frau Lau, immer mit Hochachtung erinnert, wie ,eine Freundin Anni und ich in den Metallschränken hockten, eine mit dem Niethammer bewaffnet, die andere mit dem Gegenhalter. Es ist mit Sicherheit nicht leicht gewesen, aber wir sind auf unsere Arbeit sehr stolz. Eine andere polytechnische Tätigkeit begeistert meine Mutter: Wir wurden für die Taklerei eingeteilt und lernen, auf den riesigen Industrienähmaschinen Persennings zu nähen. Meine Mutter erhofft sich von meinen neuen Fähigkeiten, dass ich mich irgendwann auch mit Begeisterung auf die heimische Nähmaschine stürzen werde, was aber nicht der Fall ist! Wir haben seinerzeit den holprigen Anfang dieses polytechnischen Unterrichts erlebt, haben aber in den Folgejahren auch die Fortsetzung mitgemacht, denn ab Klasse 10 ist unser Praxisunterricht in eine reguläre Ausbildung übergegangen, die uns in die - 1949 als Lehrkombinat gegründete - Betriebsberufsschule der Werft führt. Dort wird der
Werftnachwuchs ausgebildet, und auch wir lernen Bohren, Drehen, Fräsen, Schweißen und
natürlich Feilen, - bis zum Abwinken! Neben der praktischen Ausbildung in den Werkstätten
gehört natürlich auch der theoretische Unterricht zum Plan. Ich halte diese Grundausbildung noch heute für etwas sehr Positives. Das Ziel allerdings, das ursprünglich staatlicherseits angestrebt wurde, nämlich eine enge Verbindung der künftigen Intelligenz mit der schaffenden Arbeiterklasse, ist natürlich nie erreicht worden. Das ist eine Illusion gewesen. Aber es schadet niemandem, sich mal die Hände richtig dreckig zu machen und zu sehen, wie schwer manche Menschen ihre Brötchen verdienen. Außerdem kam diese Ausbildung in der Industrie den praktischen Fertigkeiten des Einzelnen sehr zugute.

Der Stolz auf den steigenden Wohlstand der Werftangehörigen kommt in einer Statistik zum
Ausdruck, die die Werftzeitung am 6. Oktober 1959 veröffentlicht: „Gemäß Zählung vom 25./26.9.1959 gibt es in der Werft folgende Privatfahrzeuge: 250 Motorräder, 10 Motorräder mit Beiwagen, 80 Mopeds, 60 Motorroller, 15 PKW.“ Wenn das nichts ist! Leider liegt mir eine adäquate Vergleichszahl aus der BRD nicht vor, die würde diese Zahlen erst ins rechte Licht rücken.


Aus der kleinen Loggerwerft wird eine Großwerft

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Unter der Überschrift „Ruhm und Ehre unseren Aktivisten“ verzeichnet die Werftzeitung im
Mai 1958 auch eine Aktivisten-Auszeichnung des Patentingenieurs Albrecht Brandt. Sie ist
schon nicht mehr ganz so pompös, das heißt ohne zugehörigen Aktivistenpass usw. Das
Gleiche trifft auf die letzte Aktivisten-Auszeichnung ein Jahr später zu. In jener Zeit beginnt
bereits die massenhafte Vergabe dieser Ehrung. Allerdings muß man berücksichtigen, dass
Angehörige der Intelligenz und Angestellte derartige Auszeichnungen wesentlich seltener erhalten als Produktionsarbeiter. Wir sind eben ein Arbeiter- und-Bauernstaat! Die Auszeichnungen meines Vaters sind vermutlich in erster Linie begründet in der Vielzahl
seiner Patente, Wirtschaftspatente und Gebrauchsmustern . Er hat ja nicht nur die von
anderen eingereichten Verbesserungsvorschläge, wenn möglich, zur Patentreife entwickelt,
sondern ist selbst Inhaber vieler Patente.

Diese Vielzahl von Patenten hat ihre Ursache im Betrieb selbst, denn die Werft stellt zu
dieser Zeit ihr Schiffbauprogramm generell um. Die bis dahin - neben anderen Schiffstypen -
in unvorstellbar hohen Serienzahlen gebauten Logger und Mitteltrawler werden abgelöst
durch das Großtrawler-Programm, das 1960 mit dem Bau der ersten „Tropik“-Schiffe
beginnt. Es sind erstmals keine reinen Fangschiffe mehr, sondern Fang- und Gefriertrawler. Das heißt, diese Schiffe haben auf Deck die Fangtechnik, unter Deck die Verarbeitungstechnik. Damit ist der „Tropik“ qualitativ natürlich etwas völlig Neues. Dieser Schiffstyp wird später weiterentwickelt werden zum „Atlantik“ und „Atlantik-Supertrawler“. Ich kann mich noch gut an die Begeisterung meines Vaters erinnern, als die Tropik-Serie in der Vorbereitung war. Alles ist neu: die Werft wird erweitert (Werftausbau Süd), es kommt die neue, aufsehenerregende Absenkanlage dazu, der „Schiffs-Fahrstuhl“, der die bisher übliche Stapellaufmethode ersetzt. Die Fangtechnik ändert sich: aus Seitenfängern wurden Heckfänger. Damit ändert sich auch das Fanggeschirr. Das sind für einen Betrieb gewaltige Veränderungen, und die kreativen Köpfe haben ein großes Betätigungsfeld. So bringen z.B. die Erfindungen von H. L. der Werft einen enormen Nutzen, denn es handelt sich bei den meisten um Neuerungen in der Schleppnetzfischerei, z. B. bei den Scherbrettern, und um die Anwendung von Plaste im Schiffbau. Plaste ist damals ein völlig neuer Werkstoff mit geradezu unvorstellbar günstigen Eigenschaften. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater ein kleineres, gegossenes Bauteil mit nach Hause brachte (was es genau war, weiß ich nicht mehr) und meiner Mutter und mir begeistert Vorträge hielt, z. B. über das geringe Gewicht und über die Festigkeit.

In meiner Erinnerung ist die Zeit um 1960 fachlich für die Werftler eine Zeit hoher Anforderungen, aber gleichzeitig auch eine sehr zuversichtliche Periode. Was auf der Werft mit dem Großtrawler-Programm entsteht, ist Weltspitze, und die Beteiligten eint neben der harten Arbeit auch der Stolz auf die expandierende Werft. In diesen Jahren entsteht automatisch so etwas wie Verbundenheit mit dem Betrieb; Volkswerftangehöriger zu sein, das war schon was! Nicht nur mein Vater erzählte später gern und viel von dieser Zeit. Leider haben viele von denen, die für den Aufstieg der Werft gearbeitet und ihn mit geprägt haben, 30 Jahre später auch noch die Kämpfe um den Erhalt dieses großen Betriebes miterleben müssen. Meinem Vater ist das - in diesem Fall: zum Glück! - weitestgehend erspart geblieben.


Die Mauer verändert alles

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In den Aufschwung der Werft bricht ein Ereignis herein, das alles verändert: der Mauerbau.
Das Problem der über Westberlin abwandernden Fachkräfte hat die DDR ja seit ihrer
Gründung beschäftigt. In Betrieben und Schulen ist man immer gespannt, wer nach dem
Urlaub/nach den Ferien wieder auftaucht bzw. wer nicht. Daher pendelt die Propaganda der
DDR zwischen den beiden Eckpfeilern: Deutschlandpläne für eine Vereinigung und
Schlechtreden der westdeutschen Wirtschaft. Beides dient dazu, der eigenen Bevölkerung
Stärke und Zukunftsfähigkeit vorzuspielen. In der Werftzeitung sieht das dann so aus:


  • „Plan zur Rettung der deutschen Nation“ 
  • „Werftecho auf den Deutschlandplan des Volkes“
  • „Kommt zu uns! Liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
  • „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
  • „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.


Aber nicht nur in den Medien verschärft sich der Klassenkampf, auch in den Betrieben wird
die richtige politische Ausrichtung des einzelnen immer wichtiger für seinen beruflichen
Aufstieg. In diese politisch aufgeheizten Sommermonate fällt dann das, was allseitig ideologisch vorbereitet ist: Die offene Grenze in Berlin wird mit dem Mauerbau geschlossen. Die offizielle Bezeichnung „Antifaschistischer Schutzwall“ versucht zu bemänteln, was nicht zu bemänteln ist, dass nämlich der DDR schlicht die Fachleute abhanden kommen und dass sie ihre Leute einsperren muß, um sie zu halten.
Nach dem Mauerbau setzt eine gewaltige Medienkampagne ein:


  • „Schluß mit dem schmutzigen Menschenhandel“
  • „Das Vaterland ruft!“ (Freiwilliger Ehrendienst in der NVA)
  • „Arbeiter antworten den Militaristen“
  • „Kollegen treten der Kampfgruppe bei“.


Die Zeitungen sind voll mit Ergebenheitsadressen an das ZK (Zentralkomitee) der SED und
an die Regierung. An anderer Stelle habe ich bereits erzählt, dass auch wir Schüler der Hansa-Oberschule nach den Sommerferien unsere Ergebenheitsadresse abliefern: Als Bekenntnis zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat tragen wir ein Jahr lang das Blauhemd der Freien Deutschen Jugend! Es hat dem Staat nicht geholfen, und uns hat es das Blauhemd für den Rest unseres Lebens verekelt! Generell aber kann man für die unmittelbare Zeit nach dem 13. August 1961 sagen: Die Mehrheit der Bevölkerung ist in eine Art Starre verfallen und ist sich darüber im Klaren, dass von jetzt an ein anderer Wind weht, denn es gibt ja nun keine andere Möglichkeit mehr als zu bleiben.


Auch die Werftzeitung jener Zeit läßt die radikale Politisierung erkennen: Die Parteileitung
bestimmt den Inhalt. Bei der Auflistung der Mitglieder der neu gewählten Parteileitung wird
als erste Angabe die soziale Herkunft genannt. Jegliche Deutschlandpläne u. ä.
verschwinden aus den Medien, jetzt heißt die Kernfrage: völkerrechtliche Anerkennung der
DDR. Die Parteitage der SED bestimmen nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das
wirtschaftliche Leben, getreu nach dem Motto „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“
(eine Zeile aus einem Gedicht von Louis Fürnberg), das jahrelang im großen Speisesaal der
Werft die Bühnenwand zierte und mir Mittagessen und Fürnberg versalzte. Der Partei-Einfluß geht so weit, dass Schwerpunktobjekte, wie z. B. der Prototyp einer neuen
Generation von Fischereifahrzeugen, unter Parteikontrolle gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht ein Fachmann, sondern der Parteisekretär in allen Fragen das letzte Wort hat.
Unter diesen Bedingungen war es von Anfang an klar, dass nur diejenigen noch Karriere
machen konnten, die auch Mitglied der SED waren. Ist das nicht der Fall, nützen die besten
Leistungen nichts. Auch die junge Intelligenz bekommt das zu spüren. Mein Vater, der 1963 das Rentenalter erreicht, arbeitet bis Ende des Jahres weiter ganztags, dann schließt er noch ein Jahr mit einer Halbtagstätigkeit an. Mit dem 31.12.1964 endet sein
Berufsleben. 

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Aktennotiz von seinem damaligen
unmittelbaren Vorgesetzten: Mein Vater, der damals noch Verbündete in der Direktion hatte,
war erfolgreich gegen seine vorzeitige Ablösung als Leiter der Patentstelle und die
Einsetzung des designierten Nachfolgers vorgegangen. Er blieb Leiter der Patentstelle bis
zur Pensionierung. Dieses altersmäßige Arbeitsende rettet ihn aber mit Sicherheit vor einer
Absetzung vom Chefposten, die anderenfalls früher oder später erfolgt wäre. Ein Leiter der
Patentstelle ohne SED-Mitgliedschaft wäre in den Folgejahren undenkbar gewesen. Dass die Parteizugehörigkeit auch direkten Einfluß auf dienstliche Belange hat, konnte mein Vater noch im Nachhinein registrieren: Er hatte während seiner Tätigkeit mehrfach versucht, im Rahmen von Patentanmeldungen und Patentstreitigkeiten ins Deutsche Patentamt nach München fahren zu können. Es war völlig unmöglich, obwohl der Werft dabei materieller Schaden entstand. Sein Nachfolger durfte nach München fahren. Er war Genosse.



"Arbeit war das ganze Leben "

Was mir Demokratie mit Marktwirtschaft gebracht hat - ein Erfahrungsbericht

Monika Brandt war vom 1. Oktober 1968 bis zum 31. Dezember 2001 als "Wissenschaftliche Mitarbeiterin" auf der Volkswerft beschäftigt. Über ihre ersten Erfahrungen mit der Marktwirtschaft hat sie im Rahmen eines Vortrags anlässlich einer Tagung in der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt vom 11. bis 13. März 2005 berichtet. Ihr Bericht steht stellvertretend für die Erfahrungen, die viele Werftarbeiterinnen und -arbeiter infolge des schmerzhaften Wandels des Stralsunder Schiffbaus gemacht haben. Wir danken Frau Brandt für die Erlaubnis, dieses Zeitzeugnis auf der Homepage veröffentlichen zu dürfen.

"An einem Septembermorgen 2001 fanden die Personalgespräche statt, die die Meisten unvorbereitet trafen. Dann hatten sie zwei Stunden Zeit, ihre Schreibtische zu räumen und den Betrieb zu verlassen. Wenn Sie jetzt vermuten, dass es sich um Arbeitnehmer handelte, die straffällig geworden waren, dann irren Sie sich. Es waren Beschäftigte der Volkswerft Stralsund, die in diesem Betrieb schon 20, 25, 30 Jahre tätig waren, so genannte „junge Alte“ zwischen 45 und 55 Jahren. (Arbeitnehmer über 55 Jahre, die - so wie ich - ihre Kündigung erhalten hatten, durften bis zum Jahresende weiterarbeiten). Der Schock saß tief, denn jeder war mitten aus seiner Arbeit gerissen, die Computer liefen noch, als die Einzelnen zum Personalgespräch geholt wurden. Mit dem, was die Kollegen in den verbleibenden 2 Stunden zusammenräumten, verließen sie dann den Betrieb, vorbei an den Kolleginnen und Kollegen, die es diesmal nicht getroffen hatte. Von denen wagte keiner hochzugucken. Kein tröstendes, kein freundliches Wort, keine Hilfestellung und erst recht kein Dank für jahrzehntelange Arbeit. Und kein Betriebsrat hatte eine solche Verfahrensweise verhindert. Wer so aus dem Betrieb gejagt wird, hat lange mit der Aufarbeitung zu tun. Ich hatte nach meiner Kündigung im Freundeskreis den Satz gesagt: „Ich bin froh, dass es vorbei ist!“ Diesen Satz verstanden alle, die die Atmosphäre in den ehemaligen volkseigenen Betrieben kannten, die schon eine oder mehrere Kündigungen hinter sich hatten, aber kaum jemand, dem diese Situation fremd war, was vor allem für meine Freunde in den Altbundesländern zutraf. Dabei hatte ich in diesem Satz das Erlebte aus den letzten 12 Arbeitsjahren zusammengefasst. Das möchte ich im Folgenden auch für Sie tun, denn so wie uns ist es vielen im Osten Deutschlands ergangen, und heutige Verhaltensweisen lassen sich vielleicht besser verstehen....."